Als West-Berlin uns abhanden kam

Dieser Tage wird gefeiert: 25 Jahre deutsche Einheit. Allenthalben wird der Wendezeit gedacht, werden Vergleiche gezogen und die Frage gestellt, ob die Einheit nun gelungen sei. Als alte West-Berlinerin schießen mir noch heute die Tränen in die Augen, wenn ich die Bilder vom Reichstag sehe, wo ich am 3. Oktober 1990 gestanden habe, Arm in Arm mit einem Freund aus Hamburg und einer Gruppe Magdeburger, die ihre Emotionen und ihren Rotkäppchen-Sekt mit uns geteilt haben.

Noch heute überfällt mich jedes Mal ein seltsames Glücksgefühl, wenn ich über den ehemaligen Mauerstreifen fahre, sei es zum Markt nach Kleinmachnow oder über den Potsdamer Platz. Oh doch, die Mauer existiert noch in den Köpfen der alten Berliner, wir wissen genau, wo sie gestanden hat, wie sie aussah, wie es roch und wie es sich anfühlte: das alte West-Berlin. Während sich das Führungspersonal der vereinigten Republik zumindest in den Spitzenfunktionen aus ehemaligen DDR-Bürgern rekrutiert und sogar Rotkäppchen-Sekt überlebt hat, ist unser West-Berlin sang- und klanglos untergegangen.

»Nicht schade drum«, finden die »Neig‹schmeckten«, wie man in Schwaben jeden nennt, der nicht im Ländle geboren wurde. Und dann sagten uns die Leonberger und Schwäbisch Haller, wie es denn zuzugehen habe in einer Weltstadt, sie schimpften uns Provinzler und wir schämten uns. Bald sah man auf den Empfängen nicht mehr die gewohnten 500 Gesichter aus dem Süden der Stadt, sondern nur noch die aus dem Süden der Republik, die alles können, außer Hochdeutsch. Man nahm uns gnadenlos die Berlin-Zulage weg, obwohl wir nicht einen Pfennig mehr verdienten als vor Maueröffnung, trotzdem wurde alles teurer.

Und dann wurde Berlin endlich das, was es immer schon war: Hauptstadt. Während wir an den Wochenenden nun rausfahren konnten und mit Fontane im Gepäck die Mark Brandenburg erwanderten oder Golfkurse belegten, bekamen wir neue Nachbarn. Die kamen bald nicht mehr nur aus Lorch oder St. Augustin, sondern aus Tokio und Tel Aviv. Mit unseren Steuern haben wir Eigentumswohnungen in Potsdam und in Leipzig finanziert, während die Löcher in unseren Straßen immer tiefer und das Unkraut auf den Seitenstreifen immer höher wurde. Wir haben leise unseren Harald und unsere Hilde zu Grabe getragen, die neuen Zehlendorfer Stars hießen Bushido oder Boateng.

Eine Stadt erneuert sich alle zehn Jahre – das trifft sogar auf das verschlafene Zehlendorf zu. Da entstanden Wohnsiedlungen von Architekten der Generation Lego, da wurden alliierte Gebäude umgewandelt in teure Urbanisationen und auch die Asylsuchenden, die jetzt im Hohentwielsteig, in der Thiel- oder Goerzallee angekommen sind, werden das Gesicht von Zehlendorf verändern. Dabei muss man nicht jede Veränderung mit lautem »Hurra« begrüßen, aber Berlin ist immer am Werden, das ist es, was Weltstädte von Dörfern unterscheidet.

Trotzdem fehlt mir jetzt in den Jubiläumstagen die liebevolle Erinnerung an mein West-Berlin. »Wie konntet ihr nur so eingesperrt leben?« Eingesperrt? Unsere Straßenbahnen wurden von PanAm, Air France und British Airways betrieben, unser Bahnhof hieß »Flughafen Tegel« und unser Vorort war Helmstedt. Mauer? Wenn man etwas nicht sehen will, dann sieht man es eben nicht. Wie oft haben Sie die Potsdamer Chaussee in südlicher Richtung überquert? Damals brauchte man sich am Wochenende niemals zu verabreden. Sonnabends traf man sich im Sommer auf dem Winterfeldmarkt, im Winter im KaDeWe. An schönen Abenden war Tout Berlin in Schildhorn und bei Eis auf dem Grunewaldsee. Sonntags war Kudamm angesagt, die Ausgeh-Nächte dehnten sich bis zum Frühstück und jede Szene hatte eigene Kneipen. Provinz? Wir hatten immer die Weltstadt im Kopf.

Manchmal hab‹ ich Heimweh nach dem Kurfürstendamm.

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