Dieses komische Ding, das man Weihnachten nennt

Jedes Jahr aufs Neue stürzt mich der Dezember in ein emotionales Chaos. Heute weiß ich, dass es nicht nur mir so geht, dieses komische Gefühl zu Weihnachten teile ich wohl mit Milliarden Menschen auf dieser Welt.

Glockenklang und Zimtduft, Lichterketten und Kerzenschein, Tannenbäume und Adventskränze, Gänsebraten und Rotkohl, Plätzchen und Stolle, ehrlich, ich liebe das alles und kann gar nicht genug von weihnachtlichen Dekorationen und festlichen Essens-Einladungen bekommen. Ich dekoriere, koche und backe, als ob es gilt, zur Hausfrau des Jahres gewählt zu werden und das seit dem Tag als meine Eltern mich rausgeworfen haben und sogar in jenen Zeiten, als der Jahresendspurt in meiner Firma tägliche Doppelschichten erforderlich machte. Es ist, als ob ich mit diesen Aktivitäten gegen das Ende des Adventskalenders anschufte, das jedes Jahr so bedrohlich schnell und trotzdem vollkommen überraschend naht. Denn wenn erst der Weihnachtsbaum steht, ist Schluss mit Lustig.

Jahrzehntelang habe ich gedacht, dass meine Eltern schuld seien. Denn dieses emotionale Weihnachtschaos kenne ich seit frühester Kindheit. Mein Vater hasste Weihnachten. Meine Oma war zu Weihnachten gestorben als er ein kleiner Junge war und die fünf Kinder waren jedes Jahr zu Heiligabend mit der Haushälterin und späteren Stiefmutter allein, weil Opa Chef von der Feuerwehr und mithin bei seiner Truppe war. Bei uns zu Hause gab es deshalb niemals Kerzen auf dem Tannenbaum. Meine Mutter liebte Weihnachten, sie erinnerte sich gern an die Weihnachten ihrer Kindheit und erzählte mir viel, was sie mit meiner  Oma alles zu Weihnachten gemacht hatte. Und da, ganz früh in meiner eigenen Kindheit, begann es:

Der Nikolaus im Kindergarten machte mir Angst.
Der Nikolaus im Kindergarten machte mir Angst.

Ich war vier Jahre alt, als ich den Glauben an den Weihnachtsmann verloren habe. Der Weihnachtsmann roch nach Schnaps, stotterte, wie Onkel Zwanzig von unten rechts, und fiel die Treppe runter, nachdem er mir meine Geschenke gebracht hat. Seinen Bart habe ich am nächsten Morgen auf dem Treppenabsatz gefunden. Damals arbeitete man noch Heiligabend, Vater kam um vier Uhr nachmittags nach Hause, bepackt mit einem Weihnachtsbaum, einer Gans und einer Tüte mit Schokoherzen, Spekulatius, Nüssen und Mandarinen. Das war es, was es in den 50er Jahren zu Weihnachten von den Firmen für ihre Mitarbeiter gab. Natürlich waren Opa und Oma Hof bei uns, die gegenüber wohnten und den ersten Feiertag verbrachte die Familie bei dem inzwischen pensionierten Feuerwehrchef in Alt Wittenau, wo sich die fünf Kinder inklusive Familien zum festlichen Weihnachtsessen einfanden. Und dann zogen wir nach Dortmund.

Damit begann die Misere. Denn auch in den ersten Jahren musste Vater noch zu Heiligabend arbeiten, was bedeutete, dass wir zu Hause zwar noch Bescherung machten aber dann ging es ab nach Berlin. Vater war schlecht gelaunt, weil es kurz hinter dem Kamener Kreuz anfing zu schneien, Mutter war sentimental, weil es ja doch irgendwie nicht so richtig Weihnachten war, was Vater von Minute zu Minute saurer machte. Stundenlang fuhr man auf unbeleuchteten, holprigen Straßen durch die Sowjetische Besatzungszone, was meiner Mutter immer unsagbare Angst einjagte und mir auf dem Rücksitz des Karmann Ghia erhebliche Übelkeit verursachte. Kurz vor Mitternacht  kam dann endlich auf der Avus unser Funkturm in Sicht, und jedes Jahr fing meine Mutter dort an zu heulen. Gleich rechts hinter dem Funkturm bezogen wir Quartier bei meiner Tante in Charlottenburg.

Das ging so lange, bis der alte Feuerwehrmann starb. Die Familie sprach kein Wort mehr mit der Stiefmutter, Weihnachten in Berlin, nein danke. Und so blieben wir in Dortmund. Statt des Weihnachtsmannes kam das Christkind und inzwischen hatte Vater Heiligabend auch frei. Zeit, einen Weihnachtsbaum zu kaufen, die letzte Krücke war gerade gut genug: „Wo keine Zweige sind, da muss Lametta hin.“ Meine Eltern stritten sich beim Entwirren der Osram-Lichterketten, Vater fand, dass das Lametta nicht ordentlich gebügelt war und meine Mutter kriegte grundsätzlich Migräne und hing über dem Klo. Am Abend saßen wir dann schweigend vor dem Fernseher und ich sah, dass meiner Mutter dicke Tränen runterkullerten. Ich entsinne mich an das Weihnachten, an dem mein Vater so sauer auf die Weihnachtssentimentalität meiner Mutter war, dass er ihr in den Kasten, in dem das zehngliedrige Goldhalsband gelegen hatte, das er ihr schenken wollte, eine Schere legte. Die Reaktion meiner Mutter führte dazu, dass sie das Goldhalsband erst am nächsten Tag kriegte, aber der Abend war natürlich hin. Mutter litt an ihren weihnachtlichen Harmonieansprüchen und natürlich auch daran, dass ihre eigene Mutter gestorben war und ihr Vater krank im Bett in Berlin lag. Das war eben kein „richtiges“ Weihnachten.  Wir zogen nach Stuttgart und auch dort war alles wie gehabt.

Das änderte sich erst, als wir wieder nach Berlin zogen. Das erste Heiligabend zu Hause: Opa und Großtanten waren da, die Tanten und Onkels, die Freunde, alles kam zu uns nach Dahlem. Meine Mutter war komplett überfordert, denn so viele Personen bewirten war ihre Sache nicht. Sie hatte also Migräne und umarmte das Klo. Vater war entsprechend schlecht gelaunt, die Tanten und Onkels fingen an zu streiten. Und so blieb es in den folgenden Jahren, nur der Kreis wurde immer kleiner. Der Opa, die Großtanten, die Tanten und Onkels, sie starben. Zurück blieben mein Vater, seine Schwester, sein Freund, meine weihnachtssentimentale Mutter und ich. Wie ich Weihnachten gehasst habe!!!

Und dann zog ich zu meinem französischen Freund. Meine Eltern hatten deshalb jeden Kontakt zu mir abgebrochen. Ich fing also an, unser erstes Weihnachtsfest vorzubereiten. Ich backte Plätzchen, dekorierte die Wohnung  mit Weihnachtssternen „wehe du kaufst einen Weihnachtsbaum, so was Spießiges will ich nicht!“ und kochte eine Ente à l’Orange. Mein Freund ging mal schnell Zigaretten holen und kam fünf Stunden später angeheitert nach Hause. Er hatte „einen alten Kumpel getroffen“.

Fünf Jahre später haben sich meine Eltern wieder mit mir „vertragen“. Zu Heiligabend hatte ich gefälligst bei ihnen zu sein, allerdings ohne meinen Freund. Der war darüber verständlicherweise sauer, was dazu führte, dass wir uns jedes Mal, wenn ich von meinen Eltern kam, unter dem fehlenden Weihnachtsbaum stritten. Das ging noch ein paar Jahre länger so, bis meine Eltern auf die Idee kamen, doch einfach nach Gran Canaria zu Weihnachten zu verschwinden, dann mussten sie keine Ausreden erfinden, warum sie uns nicht zu Weihnachten besuchten. Und dann hatte mein Vater plötzlich eine Freundin.

Mit solchen Fotos "erfreute" mein Vater mich später.
Mit solchen Fotos „erfreute“ mein Vater mich später.

Das machte die Sache nicht einfacher, vor allem, weil Vater Weihnachten regelmäßig mit seiner Freundin auf Kreuzfahrt ging. Denn Mutter alleine zu Weihnachten war natürlich ein absolutes No Go. Also kam Mutter zu mir, was meinen Freund aus dem Haus trieb, der nachvollziehbar fand, dass er nicht als Kindermädchen für meine Mutter eingestellt sei. Nach vierzehn Jahren trennte ich mich von meinem weihnachtsmuffelnden Freund. Und dann kam ich auf die Weihnachtsidee schlechthin: Ich buchte eine Reise zwischen Weihnachten und Neujahr und kündigte dies Monate vorher an, in der Hoffnung, dass Vater dann bei Mutter blieb. Das blieb er natürlich nicht, aber dafür buchte Vater Mutter ebenfalls eine Reise. Und so war unsere Familie dann viele Jahre lang quer durch die Welt verstreut. Vater in Antigua, Mutter in Monte Grotto, Tochter in New York. Und was taten wir an Heiligabend? Nun, ich verbrachte meine Heiligabende damit, Vater und Mutter anzurufen. Was nicht immer so ganz einfach war. Ich stand stundenlang an einer einzelnen Telefonzelle am Pier in Luxor an. Ich telefonierte vom Flughafen in Hongkong, wo ich grade gelandet war, kurz vor Mitternacht europäischer Zeit mit Fuerteventura und Hawaii. Ich saß einsam in einem Hotelzimmer in Miami und versuchte verzweifelt, eine Verbindung nach Brasilien zu bekommen. Denn wenn man nicht mit den Eltern gesprochen hatte und gute Weihnachtswünsche gegeben hatte, dann konnte man der Weihnachtssentimentalität nicht entfliehen. Oh, ich habe es versucht. Aber ob Hongkong oder Miami, Kairo oder Las Vegas, dieses komische Gefühl im Magen, das man Weihnachten nennt, hat mich überall eingeholt.

Dann traf ich meinen Mann, der erste Mensch, den ich kennengelernt habe, der ein entspanntes Verhältnis zu Weihnachten hat. Ich habe wunderschöne Weihnachten mit ihm verbracht, in den ersten fünfzehn Jahren konnten diese Weihnachten allerdings erst beginnen, nachdem ich mich im Pflegeheim von meiner demenzkranken Mutter oder später von meinem immer bösartiger werdenden, alleinlebenden Vater habe beschimpfen lassen. Vor fünf Jahren habe ich das erste Weihnachtsfest ohne meine Eltern nur mit meinem Mann erleben dürfen.

Und seitdem weiß ich es. An diesem blöden Gefühl im Magen sind nicht meine Eltern schuld. Milliarden von Menschen haben den gleichen komischen Knoten da unten zur gleichen Zeit. Selbst heute, fünfeinhalb Jahre nach dem Tod meines Vaters und zwölf Jahre nach den Tod meiner Mutter habe ich zu Weihnachten immer noch das Gefühl, dass ich gleich zu ihnen müsste. In dieses muffige Pflegeheim, bei dem mir schon schlecht wurde, wenn ich in der Umgebung einen Parkplatz gesucht habe. Ich habe das Gefühl, ich müsste meinen Vater anrufen und fragen, was ich ihm denn noch zu essen mitbringen könnte oder ob er sonst was brauche. Immer, wenn ich den Weihnachtsbaum schmücke, dann kommt es hoch, dieses Gefühl, noch etwas tun zu müssen für meine Lieben, für sie da sein zu müssen, obwohl man keine Lust hat. Und dann singt irgendwer im Radio „Stille Nacht, heilige Nacht“ und bei mir fließen die Tränen. The same procedure as every year. Das komische Ding, das wir Weihnachten nennen, heißt nämlich übersetzt: Denk an deine Wurzeln.

In dem Sinne Leute, fröhliche Weihnachten!

 

 

One thought on “Dieses komische Ding, das man Weihnachten nennt

  1. Wunderbar, Monika, es ist das Destillat der gesamten Jugend was an Weihnachten hochkommt und leider überwiegend das negative, belastende, wo sonst der Mensch eher die Fähigkeit hat, das positive zu erinnern.
    Trotzdem: merry xmas! Babsie

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