Das Jahr, in dem ich vergaß, einen Weihnachtsbaum zu kaufen

Heiligabend 1989 kurz vor 14.00 Uhr: Ich habe es gerade noch geschafft, eine Stolle und ein paar Filetstücke einzukaufen, denn ich habe meine Mutter zum Fondue-Essen eingeladen. Mit den schweren Tüten schleppe ich mich hinauf in den fünften Stock und lasse mich erst mal auf mein Sofa fallen. Ich bin todmüde.

Mein Blick fällt aus dem großen Rundbogenfenster über die Dächer von Charlottenburg. Und da sehe ich ihn. Zum ersten Mal. Wie kommt denn der Ost-Fernsehturm dahin? Der war doch noch nie da! Ich habe ihn noch nie von meinem Sofa aus gesehen, ich könnte schwören, dass den einer in dieser Nacht dort hingeschoben hat.

Einmal Alexanderplatz und zurück

In dieser Nacht, in der ich mit meiner Freundin ganz vorn am Grenzübergang Bornholmer Straße in der Schlange gewartet habe, die sich zur Grenzöffnung für West-Berliner dort eingefunden hat. Um Mitternacht stiegen von allen Grenzkontrollstellen Feuerwerksraketen in den Himmel, nur er Schlagbaum ging nicht auf. Ich stellte mich auf die Hupe, die Autos hinter mir in der Schlange machten es mir nach. Auch an den anderen Grenzübergangsstellen hupten sie, es ist der Sound dieser Nacht, der mir in Erinnerung bleiben wird. Zehn Minuten später werden wir durchgewinkt. Hinter den Schlagbäumen werden wir erwartet. Tausende Ost-Berliner haben sich eingefunden und begrüßen uns, wir werden mit Rotkäppchen Sekt und Konfetti empfangen, Hunderte klopfen auf Dach und Kühlerhaube, unsere Augen schwimmen in Tränen. „Wo fahrt ihr denn hin?“, hatte mich der Mann gefragt, der im Auto hinter mir wartete. „Alexanderplatz“, habe ich gesagt, weil mir nicht mehr einfiel als Alexanderplatz und weil man sich an dem Turm orientieren konnte in dieser uns fremden Stadt. Nach der herzlichen Begrüßung versank die Stadt in Dunkelheit. Nur am Alexanderplatz gab es Lichter. Damals.

Ich springe unter die Dusche und mache mich fertig. Draußen beginnt es dunkel zu werden, ich muss Mutti abholen. Ich lasse mir das eiskalte Wasser über den Kopf laufen, Himmel, bin ich müde, ich könnte unter der Dusche schlafen. Seit dem 9. November habe ich neben meiner normalen Arbeit jede Woche eine eigene Zeitung herausgegeben. Ich war keinen Morgen vor vier zu Hause gewesen.

Der größte Weihnachtsbaum Berlins

Mitte Dezember saß ich mit einer Mitarbeiterin im Flugzeug. In der Höhe von Stuttgart-Degerloch stellte ich erstaunt fest: „In zwei Wochen ist ja schon Weihnachten“. Und dann, nach einer kurzen Denkpause: „Man müsste den größten und schönsten Weihnachtsbaum, den Berlin je gesehen hat, vor das Brandenburger Tor stellen. Und dann feierlich erleuchten, so wie im Rockefeller Center“. Meine Mitarbeiterin, Heidi Bühring, sagte: „Aber wir stellen den nicht auf!“ „Natürlich nicht“, sagte ich. Kaum waren wir wieder in der Firma habe ich meinem Partner Gerd Krumm von dieser Idee erzählt. Drei Stunden später kam er mit einem Kunden nach unten: „Hier ist der Sponsor für deinen Weihnachtsbaum!“ Durchdrehen ging nicht, der Kunde war dabei, er war von einer Bausparkasse. Am nächsten Morgen habe ich meine Mitarbeiter auf die Aktion „Weihnachtsbaum vorm Brandenburger Tor“ angesetzt. Sie haben mich für völlig durchgeknallt erklärt – mit Recht, schließlich arbeiteten wir schon rund um die Uhr. Aber ich konnte sie beruhigen, es würde doch nur noch eine Ausgabe von unserer Zeitung „Neues Berlin“ erscheinen, denn ab 23. Dezember sollten die Grenzübergänge auch von unserer Seite aufgemacht werden, da machte die Verteilung an den Übergängen für Ost-Berliner keinen Sinn mehr. Also machten sich meine Mitarbeiter an die Arbeit. Innerhalb von Stunden hatten sie einen Baum gefunden, die Gemeinde Ahus in Schweden wollte uns eine 23 Meter hohe Tanne spenden. Aber wie das Ding nach Berlin bekommen, wir brauchten einen Schwerlasttransport in Überbreite. Bernd Altpeter besorgte die Genehmigung, den Transitweg für einen Schwerlasttransport in der Nacht zu schließen. Grit Schröder klapperte zu Fuß alle relevanten Stellen in Berlin ab: Alliierte, Grundbuchamt, Bauaufsicht etc. und wir erwarben Grundbesitz am Brandenburger Tor. Gerald Schömbs schaffte einen Sponsor ran, der ein Loch grub, und die Genehmigung der Bewag, dass wir Strom von den Peitschenmasten abzapfen durften. Und so wurde die Aktion Weihnachtsbaum auf den Weg gebracht.

Dann sagte der Hauptsponsor aus „politischen Gründen“ ab. Ich war erleichtert. Meine Mitarbeiter konnten endlich ausschlafen, keine Zeitung, kein Weihnachtsbaum. Aber inzwischen hatten meine begnadeten Mitarbeiter so viel Zeit und Herzblut in den Weihnachtsbaum investiert, dass sie auf Knien zu meinem Schreibtisch rutschten und bettelten, ob ich nicht einen neuen Sponsor für die Aktion suchen könnte, es wäre doch alles angeleiert. Okay, ich besorge also einen anderen Sponsor. Am 18. Dezember wurde die Transitstrecke in der Nacht für ein paar Stunden gesperrt, damit unser Baum nach Berlin kam.

Die erste deutsch-deutsche Zeitung

Gegen Mitternacht bekomme ich einen Anruf von meinem Partner Gregor: „Kannst du zum 23. Dezember eine DDR-Zeitung für West-Berliner produzieren?“ Ich schreie, heule und tobe. Gerade hatte ich meinen Mitarbeitern und der Druckerei ein schönes, ruhiges Weihnachtsfest versprochen und dann das. „Ja, sage ich, aber dann muss der Inhalt bis 20. Dezember fertig sein.“ Jetzt schreit Gregor, er hatte dem Sponsor Ulrich Schamoni versprochen, das Ost-Berliner Team hätte vier Tage Zeit zum Schreiben. Am nächsten Morgen weckt mich Grit Schröder mit der Nachricht, dass die Tanne zwar 23 Meter hoch sei, aber absolut Scheiße aussehe. Ich zitiere meinen Vater: „Wo keene Zweige sind, da muss Lametta hin“.

Ich habe jetzt andere Sorgen als diese dämliche Tanne. Ich muss die Druckerei Henke davon überzeugen, eine andere Zeitung von der Rolle zu nehmen, ich brauche Papier und das ist in diesen Tagen Mangelware, der Producer brüllt, vollbringt aber Wunder. Netterweise überlässt mein Partner es mir, Schamoni darüber zu informieren, dass wir noch an diesem Tag mit der Produktion der Zeitung anfangen müssen. Schamoni brüllt auch, beschimpft mich und verlässt wutschnaubend mein Büro. Nach einer halben Stunde ist er wieder da und sagt: „Wo bleiben Sie denn, wir müssen rüber!“ Und so fahren wir nach Ost-Berlin. Schamoni, Gerald Schömbs und ich. Mein Partner „kommt später“, also nachdem nunmehr Schamoni die Planänderung dem Chefredakteur von „Der Morgen“ verklickert hat.

Der Stellvertretende Chefredakteur Frank Mangelsdorf grinst mich an. „Worauf warten wir noch“, sagt er, „fangen wir an!“ Wir gehen in sein Büro, Frank, ein Layouter, ein Fotograf, Gerald und ich. Der Layouter reißt den Titel „Der Morgen extra“ auf. Gerald und ich wechseln einen erleichterten Blick: „Yes, die machen das genauso wie wir!“ Geri nimmt einen Bleistift und zeichnet die Spalten ein. Ich sehe die Ost-Mannschaft ebenfalls erleichterte Blicke wechseln. Der Ost-Layouter zeichnet ein Foto unter den Titel ein, dessen Größe der Bild-Zeitung alle Ehre gemacht hätte. Sören Stache, der Fotograf , wird zum Bierholen geschickt. Da platzt der Hausmeister herein und teilt uns mit, dass das Haus jetzt verlassen werden muss, da es abgeschlossen wird.

Und so wurde dann die erste deutsche-deutsche Zeitung in der COMfactory am West-Berliner Hohenzollerndamm geboren. Bis ein Uhr morgens ist das Ding komplett layoutet, konzipiert und – wir bewundern unsere Kollegen aus Berlin-Ost – ausgezählt. So etwas machen wir natürlich nicht mehr, denn wenn ich mehr oder weniger Text benötige, dann schreibe oder kürze ich direkt am Computer.

BILD wusste es zuerst

Am nächsten Morgen dann der Schock. Auf meinem Schreibtisch liegt die Bild-Zeitung. Das Aufbauen unserer Krüppelkiefer am Brandenburger Tor ist nicht unbemerkt geblieben. Kein Wunder, es gab wohl keinen Sender weltweit, der etwas auf sich hielt, der dort keine Bude aufgebaut hatte. Die Bild-Zeitung titelte: „Am 22. Dezember geht das Tor auf “. Darunter über die ganze Seite Bilder vom Aufstellen des Weihnachtsbaums vor dem Brandenburger Tor mit der Überschrift: Kohl und Modrow erleuchten gemeinsam den Weihnachtsbaum.“ Gegen Mittag ruft dann auch tatsächlich das Bundeskanzleramt an. Ich habe bereits einen riesigen roten Button in Auftrag gegeben.

Nachtarbeiter

Um neunzehn Uhr wird es spannend: Haben unsere Ost-Deutschen Kollegen es geschafft, eine ganze Zeitung neben ihrer normalen Tageszeitung zu schreiben? Die Kollegen haben es geschafft. Frank Mangelsdorf kommt mit stolz geschwellter Brust durch die Tür, im Schlepptau einige Redakteure, denn wir müssen in dieser Nacht die Texte in die Computer hauen, dann werden sie Korrektur gelesen, während Frank, sein Layouter, Geri und ich im Desktop-Studio sitzen, das Layout am Computer basteln und die Texte reinlaufen lassen. Ein Grafiker scannt die mitgebrachten Fotos. Wir sind echt beeindruckt von den Kollegen. Das Layout sitzt auf den Millimeter. Gegen Morgen fahre ich die Jungs zurück zum Grenzübergang. Haben wir uns wirklich erst gestern kennengelernt? Wir verabreden uns für den nächsten Tag um 20.00 Uhr zum Andruck in der Druckerei Henke. Denn vorher müssen wir noch mit Kohl und Modrow den Weihnachtsbaum erleuchten. Wir auf der West-Seite, die Kollegen auf der Ost-Seite vom Tor.

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Macht hoch die Tür‘, die Tor‘ macht weit

Es regnet in Strömen an diesem 22. Dezember. Meine Mitarbeiterin Heidi Bühring und ich stehen unter einem Regenschirm neben unserem Weihnachtsbaum, zusammen mit dem Hauptsponsor, dem Geschäftsführer von Rewe und seinem Sohn. Hinten läuft uns das Wasser in den Mantelkragen, vorn läuft uns das Wasser aus den Augen. Was für ein historischer Moment. Zigtausende sind gekommen, um der Öffnung des Symbols aller Deutschen beizuwohnen. Hier haben wir gestanden, als Ronald Reagan rief: „Mr. Gorbatschow, open the gate!“ Das BKA gibt uns dann die Anweisung, aus Sicherheitsgründen selbst den Baum zu erleuchten, sie lassen Kohl und Modrow nicht mehr auf die Westseite laufen, denn die Massen in Ost-Berlin haben die Barrikaden heruntergedrückt, sie konnten es nicht erwarten, bis das Tor aufgeht.

Irgendwie sind wir danach in die Innenstadt gekommen, nass wie junge Katzen. Um 20.00 Uhr haben wir dann „Der Morgen extra“ zusammen mit unseren Kollegen abgenommen, die Zeitung wurde ab 23. Dezember an allen Grenzübergangsstellen verteilt, genauso wie vorher mein „Neues Berlin“.

Stille Nacht, heilige Nacht

Und nun ist es also Heilig Abend. Ich habe unsere Zeitung auf dem Beifahrersitz als ich zu meiner Mutter fahre. Kurz vor dem Breitenbachplatz durchfährt mich ein eisiger Schreck. Ich habe vergessen, einen Weihnachtsbaum zu kaufen!

Bevor ich mit Mutti zu mir nach Hause fahre, machen wir einen kleinen Schlenker zum Brandenburger Tor. „Guck mal, Mutti, mein Weihnachtsbaum steht dieses Jahr hier“.

Mutti hat geweint.

Nachtrag:

Es war nicht die letzte Zeitung, die ich zusammen mit dem Team um Frank Mangelsdorf machen durfte, bis März produzierten wir jede Woche eine Ausgabe. Frank wurde erst Lokalchef der Berliner Morgenpost und später Chefredakteur der Märkischen Oder Zeitung. Gerald Schömbs hat zusammen mit Grit Schröder seine eigene, noch heute sehr erfolgreiche PR-Agentur Schröder & Schömbs gegründet. Bernd Altpeter wurde später selbst Chef in einigen großen Agenturen wie z.B. Ogilvy & Mather. Dr. Heidemarie Bühring wurde zwei Jahre nach diesem Weihnachtsfest meine Partnerin in der Agentur Neumann & Bühring. Gerd Krumm ist immer noch Geschäftsführer der GKM Werbeagentur. Ulrich Schamoni und Lutz Albrecht „Gregor“ Gregorzitza sind inzwischen verstorben. Ich hatte das Glück, die richtigen Leute, zur richtigen Zeit, am richtigen Ort kennen zu dürfen.

Meinen Weihnachtsbaum habe ich ein Jahr später in Miami wiedergesehen. CNN sendete in den Weihnachtstagen stündlich einen Clip mit Bildern von Soldaten aus dem Irak, dazwischen geschnitten flog ein Hubschrauber immer rund um meinen Baum. Man sah Tausende Berliner von Ost und West auf den Baum zulaufen und Bette Midler sang dazu: „From the distance“.

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