Fuck Off: Neues aus dem Land der unbegrenzten Umständlichkeit

Jetzt sind wir schon über einen Monat in Florida und kommen immer noch nicht aus dem Staunen raus. Stichwort: Roastbeef. Wir lieben Roastbeef. Also reihen wir uns täglich ein in die sozialistische Wartegemeinschaft vor dem Aufschnittstand von Publix. Es ist ein wenig so wie in Berlin beim Kraftverkehrsamt. Man muss zunächst eine Nummer ziehen. 53. Mist, die Uhr über der Theke zeigt 43. Man schaut sich um, vor einem sitzt eine ca. 90jährige mit ihrer Tochter. Ja, sie sitzt, nämlich im elektrischen Einkaufswagen für handicaped clients, Menne lierfert sich liebend gern mit anderen handicaped clients ein Rennen, wer zuerst mit dem Wagen beim V8-Regal ist. Sollte man bei uns in Zehlendorf bei Reichelt auch anschaffen, ebenso die wunderbaren Einkaufswagen mit bunten Comicfiguren, in deren Oberseite man gleich zwei quengelnde Kleinkinder festschnallen kann. Famose Idee! Ansonsten sieht man weit und breit keinen anstehenden Kunden. Also mal schnell noch nach dem abgepackten Käse geschaut, das hier kann dauern. Denn die 90jährige weiß sehr genau was sie will: 1/2 lbs vom Turkey, 1 lbs vom Ham, nein, nicht den Pressschinken, richtigen Schinken, Honey!

Hinter der Theke bedient eine Dame, die altersmäßig irgendwo zwischen Mutter und Tochter liegt, also Generation „Wir um siebzig“. Nun muss man wissen, dass das mit dem Aufschnitt in den USA ein wenig anders läuft als bei uns. Hier locken nicht appetitlich aufgeschnittene Mortadellascheibchen den hungrigen Kunden, sondern in der Theke stehen in Plastik eingeschweißte ganze Schinken und Hühnerbrüste. Das ist in etwas so appetitanregend wie die Abbildung von einem benützten Kondom. Die Verkäuferin muss das schwere Stück also jeweils aus der Theke heraushieven, auspacken, die Schneidemaschine reinigen und erst dann geht es los. Ein Scheibchen wird abgeschnitten und dem staunenden Kunden auf einem Stück Pergamentpapier über die Theke gereicht. Man wird genötigt, das Stück zu essen, um dann sagen zu können: Okay, genau das will ich. Schließlich will man ja nicht, dass der Kunde das Geschnittene wieder umtauscht, unter dem Motto: schmeckt doch nicht. Das bedeutet also, dass 1/2 lbs vom Turkey und 1 lbs vom Ham ungefähr fünfzehn Minuten dauern, denn die Maschine muss zwischen jeder Sorte gereinigt, der Turkey wieder umständlich eingepackt und in der Theke verstaut werden.

Dass es mit diesem System nicht vorangehen kann, ist klar. Nicht klar ist, warum hinter der Theke weitere drei Damen der Generation „Wir um 70“ herumwuseln, deren Funktion erschließt sich dem hilflos Wartenden nicht. Aber dann: 44! ruft die eine. Nichts. 45! Wieder nichts. 46! Keiner meldet sich, kein Wunder, 44, 45 und 46 haben wahrscheinlich nach 20 Minuten Warten bereits die Flucht angetreten. 47! Inzwischen verstorben. Dann gibt die genervte Wurstverkäuferin auf. Next! ruft sie. Man rennt grinsend hin, ich bin dran! Endlich gibt es Roastbeef, ja, genauso, dünn geschnitten und bitte ein ganzes Pfund. Hält sich im Kühlschrank als ob es aus Plastik sei. Hinter uns wächst die Schlange, die Damen treten von einem Bein auf das andere, verdammter Marmorboden!

Warten, warten, warten. Seitdem wir hier sind, warten wir. Zum Beispiel auf den Mann, der bitte endlich, endlich den Gasgrill auf der Terrasse repariert. Das Ersatzteil für 600 Dollar Vorschuss müsste seit Wochen bei ihm sein. Man stelle sich vor, es Florida und der Grill ist kaputt! Der Backofen ist seit Weihnachten kaputt. FO, nein, es heißt nicht Function off, es heißt: FUCK OFF! Die Steuerung für die beiden Backöfen ist kaputt, das Ersatzteil kostet 800 Dollar und braucht ein paar Wochen, bis es nach Cape Coral geliefert wird. Was dazu führte, dass wir zu Silvester ganz unamerikanisch tatsächlich ein Fondue gemacht haben.

Der Trockner funktioniert immer noch nicht, allerdings ist das Ersatzteil bereits seit zwei Wochen in Fort Myers und der Kundendienst verspricht seit 26. Dezember täglich vorbeizukommen.

Pünktlich zum 1. Weihnachtsfeiertag ist die Toilette im Erdgeschoss verstopft. Der Plumber ist nicht zu erreichen, wir stellen uns vor, wie es wäre, wenn das Ding nun überlaufen würde und das gesamte Haus… lieber nicht weiter denken, sonst vergeht einem auch noch der Appetit auf das Fondue. Gestern kam dann endlich der Plumber, nachdem er drei Tage lang versprochen hatte, heute noch vorbeizukommen. Er ging mit seinem langen Stab von draußen in den Abwasserkanal und fischte Papier hinaus. Zuviel Papier sagte er. Und schon hat man ein schlechtes Gewissen, dass man vielleicht doch zu viel…. Sauber machen müssen Sie die Toilette selbst, sagt er, ich bin Plumber und keine Reinigungskraft. Ja. Klar.

Endlich habe ich meinen Schatz dazu gekriegt, einen Termin beim Podologen zu machen. Warum haben Männer eigentlich immer so eine Scheu, Arzt-, Friseur- oder Fußpflegetermine selber zu machen? Nachdem in der Wäscherei neben unserer Wäsche seine Telefonnummer, Adresse, Sozialversicherungsnummer und Familienstand hinterlassen hatte, fuhr er also gestern den örtlichen Podologen an. Als er zurückkam teilte er mir mit, dass ich Glück hätte, er bräuchte nicht die Bescheinigung des Krematoriums, wann meine Eltern eingeäschert worden sind. Ich schaute Schatzi an, als ob er gerade von irgendeinem noch unbekannten Flugobjekt gebissen worden sei, aber dann knallte er einen Hefter auf den Tisch. 14 Seiten, in Worten vierzehn (!) Seiten Fragebogen, die er bitte auszufüllen habe. Termin heute, 12.50 Uhr. Nee, nicht beim Podologen, Fußpflege kommt später. Bevor man sich hier die Fußnägel maniküren lassen darf, muss man erstmal einen Doktor aufsuchen. 115 Dollar nimmt der Physisian dafür, dass er Mennes Füße einmal anschaut und eine Prescription macht: Fußnägel schneiden, Hornhaut entfernen. Aber vor den Doktor sind 14 Seiten Formulare vorgeschaltet, die wir heute beim Frühstück ausgefüllt haben. Mit dem Erfolg, dass wir Tränen lachend über dem Rüherei lagen.

Es sind Fragen zu beantworten wie z.B. Sind sie ohnmächtig? Menne war stark in Versuchung anzukreuzen: Ja. Leider war nicht genügend Platz, um zu schreiben: nachdem ich das ausgefüllt habe. Der Fußpfleger will jede noch so kleine Vorerkrankung wissen. Ob man Alkohol trinkt. Was schreibe ich denn da, fragt Menne. Ich sage: die Wahrheit. Täglich. Denn wenn du schreibst: gelegentlich, weiß jeder Arzt und jeder Fußpfleger, dass du strammer Alkoholiker bist. Wozu zum Teufel muss ein Fußpfleger wissen, ob du schwerhörig bist oder ein Augenleiden hast. Was interessiert es eine Maniküre, ob du beim Ausfüllen des Fragebogens Kopfschmerzen hattest oder grüne Männchen siehst.

Aber einen Vorteil hatte dieser Fragebogen wenigstens: Mein Mann weiß jetzt, dass es sich tatsächlich um das Jahr 2014 handelt und wie man die amerikanischen Daten schreibt, nämlich erst den Monat, dann den Tag und zum Schluss das Jahr. Und ich habe jede einzelne Krankheit, die mich im Laufe meines Lebens noch ereilen kann, nunmehr auf englisch übersetzt. Von Venenleiden über Schlaganfall bis Krampfadern und Prostatakrebs. Haben Sie Geschmack? Ehrlich, stand da. Gout? Menne wollte schon schreiben, ja, einen guten. „Schatzi, die meinen Hautgout! Wir reden schließlich von deinen Füßen!“ Aber vorsichtshalber habe ich nochmal das Lexikon bemüht. Gout hat mit Hautgout nichts zu tun, es handelt sich schlicht und ergreifend um Gicht. Was für ein Frühstück. Selten so gelacht.

Geschmolzener Topfdeckel Wir hatten uns einen kleinen Topf zum Eierkochen gekauft. Beim ersten harten Ei schmolz bereits der Deckel auf dem Gasherd.

6 thoughts on “Fuck Off: Neues aus dem Land der unbegrenzten Umständlichkeit

  1. …schon komisch Nika,

    vor 4,5 Jahren noch hätt ich mich nur gekräuselt, aber dann, dann war ich ein paar mal in Ontario, Vermont, New Hampshire, New York state & city, und dann kamm Bankenkriese, Drohnen,par Kriege, NSA, Fox News, Hexenjagd gegen Assange, Snowdon etc. und ich merke inzwischen, ich kann nicht mal mit meinen „Eliteuni Neffen“ dort „offen reden“ weil sie so toll von oben herab dieses „U.S.A. & Greatest Nation on Earth“ etc. verkörpern und auch leben… sogar völligst privat in ihrem schmucken one million dollar weekend home.

    Und selbstverständlich fällt es ihnen nicht auf dass sie mal von drei ü 70 Wurstverkäuferinnen bedient werden die sich für 700 Piepen den Buckel krumm machen m ü s s e n, weil die Rente nicht reicht oder die Krankenkasse schon lange nicht bezahlbar ist…. – denn sie leben in ihrer eigenen Superwelt mit daddys Platinkarte, und der hat das auch so gut wie noch nie gesehen.

    Und es fällt ihnen auch schon lange nicht auf dass sie 14 Seiten für irgend einen Pedikürescheiss ausfüllen müssen, weil’s (für sie) vollkommen normal ist, denn jeder der dich körperlich mit irgendwas traktiert kann nen klasse Anwalt haben und deine Versicherung plündern oder gar deine Karriere ruinieren …- einfach weils cool ist $$$ bringt, und er’s evtl kann, selbst wenn dir nur ein klitzekleiner Fehler unterläuft – er’s evtl. sogar drauf anlegt ?

    Ich aber, als der deutsche Touri, ich seh sowas andauernd und bekomme einen komischen flash nach dem anderen, und fast umgibt mich sowas wie Wehmut, denn wo ist dieses grossartige Amerika dass ich mal fast angebetet hab zu James Deans und Easy Rider Zeiten… lang ist her und spätestens nach 9/11 ( und ca 5 längeren Visiten dort) haben sich so viele Bilder gewandelt bei mir, dass ich selbst deinen witzig geschribenen und witzig gemeinten Blog andersherum lese.. – ob ich will oder nicht. Aber vielleicht bin ich auch nur grad zu sentimental…

    ….?

    Greets
    StefanBee

  2. Lieber Stefan Bohr,

    ich kann Deine Sentimentalität gut nachvollziehen, es ist die Sehnsucht nach unserem alten Amerikabild, mit dem wir in Deutschland-West und insbesondere ich als West-Berlinerin aufgewachsen sind. Es ist das Bild aus den großartigsten Filmen, die jemals gedreht wurden. Und man findet dieses alte Amerika auch, gerade wenn man in Vermont oder New Hamshire oder New York unterwegs ist. Wir hatten bei unserer wunderbaren Reise durch den Osten der USA ständig das Gefühl in irgendeinem alten Lieblingsfilm zu sein. Aber – und auch da gebe ich Dir Recht – das Land hat sich verändert, oder es kommt etwas an die Oberfläche, was wir vorher nicht gesehen haben und/oder nicht sehen wollten. Das heile Amerika hat es nie gegeben, es ist eben nur Hollywood. Genauso, wie es nie das heile, gemütliche West-Deutschland gegeben hat.

    Alles hat seine zwei Seiten: Die über 70jährigen, die hier hinter der Wurst-Theke stehen, dich in den Restaurants bedienen: „Hi, I am Shela, I am your waitress tonight“ – die sprechen von Altersarmut. Ja, aber die gibt es auch bei uns. Nur hat bei uns keine 73jährige die Chance, bei McDonalds die Hamburger rauszuhauen. Stattdessen muss sie ihre Minirente mit Sozialhilfe aufstocken, zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel.

    Klar haben hier alle Angst vor dem Anwalt und sichern sich durch Papierwust ab. Aber das führt auch dazu, dass die Jungs sich ein bisschen Mühe geben. Reinhard war gestern beim Doktor. Der hat seinen Fuß geröngt, gesehen, dass da eine Entzündung ist, die bis auf den Knochen geht, hat Rezepte ausgestellt und die Wunde vesorgt. Okay, es hat 450 $ gekostet. Aber er hat etwas GETAN! Mit dem gleichen Ding war Reinhard zweimal in Deutschland beim Arzt: kein Problem, nichts Ernstes, Danke und Tschüss.

    Ich will damit sagen: Es ist vieles anders hier als bei uns, aber es ist deshalb nicht schlechter. „Oh say can you see in the dawn’s early light…“

    Liebe Grüße aus Cape Coral
    Nika

  3. ….yepp Nika

    – Amerika und seine Amerikaner haben sich gewaltig gewandelt, in den letzten 20 – 30 Jahren. Und solange es die Supermilitärmacht USA gibt, und eine Heerschar von, sagen wir mal, patriotischem „white trash“ der sich perfekt für eine Military Laufbahn rekrutieren lässt… wird’s noch lange so weitergehen.

    Rush Limbough und Fox pudern solche „stolzen Amis“ die bei jedem Bowling, Wrestling oder Footballspiel ganz feuchte Augen bekommen bei der Hymne. Gegen diese ignoranten „Tea Partytroopers“ und den noch peinlicheren Sara Palin Anhängern wirken selbst unsere krudesten CSUler beinahe weltmännisch.

    New York ist ja ganz Hip, wenn du Kohle hast, sonst ist’s grausam zu dir – aber das sehr angesagte hippe Berlin ist durchaus auch ohne Kohle noch ganz sexy fürs breite Volk… und mit ? – umso besser.

    Es gäbe noch dutzende Argumente des dafür, des dagegen – die Mischung machts bekanntlich und da fehlt mir der Glaube dass sich da so bald was ändert, wenn ich mir selbst in der eigenen family hier und dort auf die Zunge beissen muss und oftmals eher lieber die Klappe halte … bei so vielen Themen. Die haben keinen Schimmer vom „Leben und leben lassen“, savoir vivre, dolce vita, durchlässigen Gesellschaften, fair play und „abgefederter Marktwirtschaft“ etc. – nicht mal in der gebildeten Oberklasse.

    Und bei oh dear can you see….geht’s ja weiter mit: “ And the rockets’ red glare, the bombs bursting in air, …und „From the terror of flight,
    or the gloom of the grave…. und – Then conquer we must,when our cause it is just, And this be our motto: „In God We Trust|In God is our trust“… – was sozusagen schon das Programm darstellt, denn fast jede Schweinerei ist auf diese Art zu rechtferigen – und das machen sie dann auch.

    Wir haben einige recht kultivierte Amis als Freunde, aber all diese Themen sind fast sowas wie Tabu – man ahnt, dass man sich den Abend ganz schnell versauen kann wenn man irgendwo politisch wird – und all das zusammen genommen steuert auf das Gegnteil einer offenen und toleranten Gesellschaft zu

    – was zunehmend einfach nur schade ist.

    Der gerade graue Rheingau grüsst zurück 🙂
    StefanBee

  4. StefanBee, offen und tolerant – was für eine schöne Vision einer Gesellschaft. Haben wir das in Deutschland?
    Sei gegrüßt aus dem ebenfalls grauen Florida
    Nika

  5. Hallo liebe Autorin! Sie sind eine tolle Frau, aber das Wissen Sie ja ! Doch machen mir Ihre Bücher echt Spaß und ich fiebere schon auf das Neue ! Ich habe lange in Zehlendorf gelebt, bin am Kuhdamm geboren und jetzt 68 Jahre alt. Jetzt lebe ich meistenteils in Schleswig Holstein auf einem kleinen Gnadenhof mit Ponys , Schweinchen und Pferden. Unsere Demeter Bäckerei führt nun unsere Tochter weiter . Vielen lieben Dank für Ihre tollen Krimis !
    Ihre treue Leserin
    Mucke Weichardt

  6. Hallo liebe Autorin! Sie sind eine tolle Frau, aber das Wissen Sie ja ! Doch machen mir Ihre Bücher echt Spaß und ich fiebere schon auf das Neue ! Ich habe lange in Zehlendorf gelebt, bin am Kuhdamm geboren und jetzt 68 Jahre alt. Jetzt lebe ich meistenteils in Schleswig Holstein auf einem kleinen Gnadenhof mit Ponys , Schweinchen und Pferden. Unsere Demeter Bäckerei führt nun unsere Tochter weiter . Vielen lieben Dank für Ihre tollen Krimis !
    Ihre treue Leserin
    Mucke Weichardt

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