Wie unterschiedlich Amerikaner und Deutsche empfinden, merkt man an Feiertagen wie am Memorial Day ganz besonders. Ich entsinne mich noch sehr gut an die Fußballweltmeisterschaft in Deutschland, als zunächst nur ein paar wenige ganz verschämt die deutsche Fahne herausgeholt haben und nicht einer unserer Fußballspieler den Mund aufkriegte, um die deutsche Nationalhymne mitzusingen. Und wie befreit plötzlich ein ganzes Land im Freudentaumel war, und von Tag zu Tag mehr Wimpel und Fähnchen auch an den Autos auftauchten, weil es über Nacht politisch korrekt geworden war. Wenn ein Politiker in Deutschland behauptet, dass die Freiheit Deutschlands auch am Hindukusch verteidigt wird, dann geht das in die Geschichtsbücher ein, allerdings in der Kategorie Hohn und Spott. Wer noch Eltern oder Großeltern hat, die den 2. Weltkrieg miterlebt haben, der verdreht schon seit Jahrzehnten die Augen, wenn Papa oder Opa mal wieder vom Krieg erzählen.
In Amerika ist das anders. Nun könnte man einwenden, dass die Amerikaner ja auch nicht mit der Bürde eines NS-Staates aufgewachsen sind. Aber ich denke, es ist noch mehr als das. Amerika ist eine junge Nation mit Menschen unterschiedlichster Herkunft und Hautfarbe und nur durch ein Marketing wie aus dem Lehrbuch ist es gelungen, so etwas wie ein amerikanisches Nationalgefühl überhaupt herzustellen.
Da ist der Superbowl, das Endspiel der amerikanischen Football-Mannschaften, also sowas wie die Deutsche Fussball-Meisterschaft. Man stelle sich vor, bevor das Endspiel zwischen Bayern München und Borrussia Dortmund übertragen wird, spricht Angela Merkel vor der deutschen Fahne, unterlegt mit „Warum ist es am Rhein so schön“, danach reiztiert Oli Kahn vor der Kulisse von Sylt Morgenstern und Günther Netzer vor dem Wilden Kaiser Hölderlin. Dazwischen erscheinen Bilder vom Hamburger Hafen und dem Heidelberger Schloss, von der Insel Mainau und dem Alexanderplatz in Berlin. So in etwa wird hier in Amerika der Superbowl angetriggert. Und 1,6 Millarden Chickwings werden dabei verzehrt.
Wir sind jedes Mal bei der wunderbaren, jährlichen Edison-Electric-Light Parade total von den Socken, wenn die Menschen alle aufstehen und dem Zug mit Veteranen zujubeln und ihnen damit besonderen Respekt zollen. Undenkbar in Deutschland.
Heute ist Memorial Day. Was habe ich erwartet? Eine Kranzniederlegung vor dem Kriegerdenkmal an der Veterans Bridge. Ende der Veranstaltung, so wäre es jedenfalls bei uns gewesen. Memorial Day ab eins – jeder macht seins. Und das heißt: Memorial Day Sale und findet in allen Kaufhäusern des Landes statt.
Gestern Abend bin ich gegen Mitternacht von der Terrasse auf das Sofa umgezogen, um mir noch ein Gute-Nacht-Betthupferl-Krimi im Fernsehen zu gönnen. Und dann war ich mittendrin im amerikanischen Memorialdayconcert und konnte nicht mehr abschalten. Eine Packung Kleenex ist auch noch bei draufgegangen.
Die Kulisse: Das Weiße Haus. Sundown. Veteranen und ihre Familien. Männer – und Frauen – ohne Beine, Arme, Augen. Aber mit Familie und Kindern. Eine riesige Bühne gegenüber des Weißen Hauses, ein weißes Zeltdach darüber, angestrahlt in den Farben der amerikanischen Flagge. Ein Symphonieorchester, ein riesiger Chor von Soldaten und Soldatinnen. Den Moderator kennst du doch. Ach, das ist doch der aus Criminal Minds. Der mit dem Bart, der immer so betroffen guckt. Der also moderiert das Memorialdayconcert. Schwarz gekleidet, die Krawatte mit der amerikanischen Fahne. Grenzwertig, aber doch irgendwie gut. Unterstützt wird der Schauspieler von seinem forensischen Kollegen aus CSI Ich weiß nicht so genau ob N.Y. oder Las Vegas, egal Der Mann ist als Schauspieler echt unterfordert bei CSI, gestern Abend in der Livesendung hat der mal richtig gezeigt, was er kann. Er trug die Gedanken eines Soldaten vor. Der zuerst im Irak verwundet wurde und dabei sein Kurz- und sein Langzeitgedächtnis verlor und es kaum erwarten konnte, wieder bei der Army zu sein. Bei seinem zweiten Einsatz in Afghanistan verlor er zwei Beine, einen Arm. Seine Freundin verließ ihn. Er lernte, was es heißt, nach Hause zu kommen. Er verliebte sich, heiratet, hat jetzt zwei Kinder. Dann geht der Schauspieler gemessenen Schrittes von der Bühne und begrüßt den Mann, der erstaunlich lebendig und sympathisch mit vielen Prothesen im Rollstuhl in der ersten Reihe sitzt und lächelt. Die Menschen weinen. Das Symphonieorchester spielt, der Chor summt, dann tritt eine Sängerin auf, die aussieht wie ein Engel und singt wie ein Engel. Wo sind die Kleenex?
Danach betritt eine Frau in meinem Alter die Bühne. Sie erzählt mit zitternder Stimme von dem Tag, als sie in ihrem Job in den Konferenzraum gerufen wurde, wo man ihr mitgeteilt hat, dass ihr ältester Sohne bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben gekommen ist. Hinter ihr auf der Vidiwall läuft ein Video aus Kindertagen des Jungen. Sie erinnert sich an die guten Zeiten, wie er sich beim Fahrradfahren das Bein gebrochen hat, die Frau unterdrückt mühsam die Tränen, im Gegensatz zum Publikum, in dem niemand die Tränen zurückhalten kann.
Dann gibt es eine Broadway-Show-Einlage mit Liedern der 40er Jahre, ein Film über D-Day erzählt von der Eroberung einer Klippe in der Normandie. 250 Soldaten starben an diesem Felsen, es gab neun Überlebende. Alle neun sitzen auf dem Podium, alt, ein wenig dement, aber stolz. Ein Schauspieler rezitiert die Erzählung eines der Männer, wie er die Erstürmung der Küste erlebt hat.
Die Menschen vor dem weißen Haus stehen auf und ehren ihre Vetranen. Colin Powell hält eine bewegende Rede, in der er den amerikanischen Soldaten dankt, dass sie es allen Amerikanern ermöglichen, in Frieden und Freiheit zu leben. Es marschieren Fahnenträger der einzelnen Armee-Teile ein, das Orchester spielt ihre Lieder, der Chor singt, die Mitglieder der einzelnen Corps-Bereiche im Publikum stehen auf und singen laut mit. Zum Schluss kommen alle Sänger auf die Bühne, das ganze Publikum steht jetzt und singt inbrüstig: God bless America.
Ich schwamm in Tränen. Das war eine Veranstaltung aus dem Lehrbuch: Wie stifte ich Identität und Nationalstolz. Emotional, berührend und nur so verklemmte Deutsche wie wir, finden das peinlich. Genau so hätte ich als alte Event-Managerin so eine Veranstaltung inszeniert. Allerdings wäre ich am nächsten Morgen zur Krisensitzung zum Vorstand einbestellt worden.
God bless America!