70 Jahre und ein bisschen leiser

Heute habe ich genullt. Ich hasse Nullen. In meiner Erinnerung waren diese Geburtstage immer belastet. Mit zehn bin ich auf das Lyzeum gekommen, wie man die Oberschule damals nannte. Abschied von meinem besten Freund, der neben mir in der Schule gesessen und – um mich nicht allein zu lassen – tapfer Topflappen gehäkelt hat, anstatt wie die anderen Jungs zum „Werken“ zu gehen. Mein Vater war mit Herzinfarkt zu Hause und tyrannisierte mich mit seinen ewigen Fragen: „Wie viele Doppelzentner hat eine Tonne?“ Ich antwortete mit hohem Fieber und blieb im Bett, wo ich ungestört Karl May lesen konnte. Der Kinderarzt riet: Ab ins Internat zu den frommen Schwestern. 

Zwanzig war ebenfalls grottig. 1973 wurde man erst mit einundzwanzig volljährig, ich musste also nach Vaters Pfeife tanzen. Es war das Jahr, in dem ich Abitur machte. Um Daddy zu ärgern, der meinte, ich solle Sekretärin werden und meinen Chef heiraten, begann ich ein Jurastudium. Ohne Leidenschaft und meist ohne meine Anwesenheit. Das Leben lag wie ein riesiges, kaltes Buffet vor mir und ich stürzte mich darauf wie eine Verhungernde. Jobs als Reiseleiterin nach Prag, Rom, Paris und London, Parfüm-Promotions im KaDeWe, Hostess auf der Grünen Woche, ein Hoteljob und ein Lover in Italien, ein Freund in Hamburg. Es war das Jahr, das all meine Pläne auf den Kopf stellte: An meinem einundzwanzigsten Geburtstag unterschrieb ich einen Mietvertrag für meine erste eigene Wohnung, einige Tage später gründete ich zusammen mit meinem französischen Freund meine erste Firma, eine Künstleragentur. Ein Jahrzehnt des Suchens und Ausprobierens begann, es ging hoch und runter, wir betrieben zwei Theater, wir waren pleite, ich ging zu dpa, wurde Promotionschefin in Europas größtem Musikverlag, leitete das Multivisionstheater, ging als Werbeleiterin in einen Filmverleih und landete endlich bei einer kleinen Berliner Werbeagentur, die nicht lange klein blieb.

„Traue keinem über dreißig“, hieß es damals. Ich war dabei, mich von meinem Freund zu trennen, wollte am 1. März nach Luxemburg zu RTL gehen. Der Agentur hatte ich versprochen, wenigstens noch die Pressestelle für die CMA auf der Grünen Woche zu leiten. Davor hatte ich den totalen Horror und nur die Aussicht auf meinen neuen Job als Radioproducerin ließ mich das entspannt angehen. An meinem Geburtstag ging ich zu einer Wahrsagerin. Sie sagte voraus, dass ich nicht ins Ausland gehen würde, sondern in Berlin bleiben würde. Eines Tages würde mir die Firma, in der ich jetzt arbeitete, gehören und ich würde noch mehrere Firmen in meinem Leben gründen. Ich würde sehr spät heiraten. Enttäuscht ging zu drei weiteren Wahrsagerinnen und alle sagten das Gleiche: Luxemburg? Nö!

Und tatsächlich ging ich nur für ein paar Wochen nach Luxemburg, die lukrative Freelancer Basis, die man mir nach einigen Probewochen im Sommer angeboten hatte, wurde durch neue Mitarbeiterregeln durchkreuzt. Man bot mir eine Festanstellung an, dafür bin ich nicht freiwillig im Arbeitscamp Luxemburg geblieben. Und so kehrte ich zurück in die Werbeagentur nach Berlin, die mir eines Tages gehören sollte. Tat sie, zum Teil zumindest.

Vierzig, mit Vollgas in die Rushhour des Lebens. Meinen vierzigsten Geburtstag habe ich schon mit meinem jetzigen Ehemann verbracht. Blöd nur, dass ich immer noch jedes Jahr die Grüne Woche betreuen musste, mein Mann vom Jahresendgeschäft aufgefressen wurde und wir wie jedes Jahr im Dezember kaum Zeit für uns hatten. Meine Firma florierte, auch wenn es mit Daimler-Benz ein heftiges Hin- und Her gab, bevor wir endlich doch die Bauarbeiten zum Potsdamer Platz mit PR-Events betreuen durften. 

Zehn Jahre Balancieren auf dem Hochseil. Dann kam der Absturz. Mein fünfzigster Geburtstag war wohl der traurigste meines Lebens. Meine Mutti war ein paar Tage vorher gestorben und ein paar Monate vorher hatte ich meine Firma beerdigen müssen. Dazu war ich mitten in den Wechseljahren, die mir gewaltig zusetzen. Ich habe „Mein letzter Tampon“ geschrieben, mein erstes Buch, das von einem Verlag veröffentlicht wurde. Zusammen mit meinem besten Freund habe ich eine neue Firma gegründet, ich saß in der Hakeburg in Kleinmachnow, schaute auf den See und hatte Null Bock, für irgendwen PR zu machen oder riesige Events zu organisieren. Ich wollte nur noch eins: Schreiben. Aber kann man davon leben?

Mein sechszigster Geburtstag. Endlich rundum glücklich. Ich hatte bereits zwei Bestseller auf dem Markt, wir waren zwei Tage zuvor für ein halbes Jahr nach Florida in eine Traumvilla gezogen und eigentlich war alles toll. Nur, dass mein Mann kurz vorher hingefallen war und seitdem nicht mehr laufen konnte. Der Geburtstag erwies sich als Totalausfall, böse Nachrichten aus Berlin platzten hinein in die morgendlichen Glückwünsche. Abgesehen von diesem besonderen Tag – meine Sechziger Jahre waren die besten und erfülltesten meines Lebens. Endlich bin ich da angekommen, wo ich immer hinwollte, kann endlich das tun, was ich am liebsten tue, dort, wo ich es am liebsten tun will. Körper und Geist sind zur Ruhe gekommen. 

Heute ist mein siebzigster Geburtstag. Die Sturm und Drang-Zeit ist vorbei. Ich habe mir in meinem Leben alle meine Träume erfüllt: Ich lebe in einer glücklichen Ehe, bin weit gereist, durfte mit den ganz Großen dieser Welt arbeiten und habe sechsunddreißig Bücher geschrieben, die alle auf der Bestsellerliste gelandet sind. Ich hoffe, noch ein paar schreiben zu können, die auch noch Leser finden. Das Einzige, was ich mir wünsche, ist Gesundheit, vor allem für meinen Mann.  

Man wird bescheidener, wenn man älter wird. Und ich bin in den letzten Wochen eins geworden: leiser. Angesichts all des Schwachsinns in dieser Welt, der mir täglich mit den neusten Nachrichten ins Haus weht, bin ich fast sprachlos geworden. Was soll man auch dazu sagen, außer: Wie gut, dass ich schon so alt bin.