Chicago oder Castrop-Rauxel – Segen und Fluch des Unbekannten

Doch, es gab sie. Die Gespräche am Rande der Buchmesse. Über das, worum es dort eigentlich geht: das Buch. Egal ob e- oder Taschen- oder Hörbuch, Hard- oder Softcover –  in welcher Form unsere Geschichten zum Leser kommen, ist letztlich egal, auch wenn es immer noch Ewiggestrige gibt, die darüber stundenlang streiten können. Aber das ist der eigentliche Verdienst von Buchpreisen, zumindest die Jurymitglieder und ein paar Journalisten reden mal wieder über den Inhalt von Büchern. Neudeutsch: Content.

Ich hatte dieses Jahr die Ehre, als Jurymitglied des Kindle Storyteller Awards an der Auswahl eines Siegertitels beteiligt zu sein. Zusammen mit einer schreibenden Schauspielerin, zwei Regionalkrimi-Autoren, einem Journalisten, einem Autorenverbands-Chef und einem Kindle-Manager. Bevor ich nach Frankfurt gefahren bin, habe ich mit mir eine Wette abgeschlossen. Ich habe die Wette gewonnen. Den Preis bekam genau der Titel, der mir persönlich am wenigsten gefallen hat. Warum?

Weil es um eine Grundfrage geht. Sie lautet: Warum gefällt uns ein Buch? Und schon sind wir mitten drin in der schönsten Diskussion. Mir persönlich gefällt ein Buch, wenn es mich emotional anspricht. Und es ist mir herzlich egal, ob ein Prolog unliterarisch sein soll oder  für schreibende Debütanten spricht. Wenn mich dieser Prolog auf Seite 3 zu Tränen rührt, dann ist der Einstieg in das Buch für mich gelungen. So einfach ist das. Aber ich bin ja auch Selfpublisher und in den Augen einiger eine Autorin zweiter Klasse.

Wenn man Bücher verschiedener Genres bewerten soll, kommt man allerdings ganz schnell zum Handwerk. Denn kein Mensch kann von mir erwarten, dass mich in meinem Alter ein New Adult-Roman vom Sofa fegt. Dass mich Technikmuffel ein SF-Buch interessieren könnte, ebenso wenig. Fantasy ist auch nicht so ganz mein Ding, aber ich liebe Biografien. Neben Krimis sind Biografien das, was man am häufigsten in meinem Bücherschrank findet. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, eine Biografie nach literarischen Kriterien zu bewerten. Das Leben richtet sich nicht nach Struktur und Spannungsbogen. Wichtig ist für mich, dass eine Biografie authentisch ist. Das trifft natürlich auch auf alle anderen Genres zu.

„Stell dir mal vor, die Lebensgeschichte hätte in Castrop-Rauxel gespielt. Was wäre dann noch von der Faszination übrig geblieben?“

Eine gute Frage. Abgesehen davon, dass die Lebensgeschichte einer Vietnamesin vor dem Hintergrund der Indochina-Krise und des Algerien-Konflikts nicht in Castrop-Rauxel spielen könnte, was eigentlich spricht ansonsten gegen Castrop-Rauxel? Das jedenfalls frage ich mich angesichts der unendlichen Flut insbesondere im Selfpublisher-Milieu von Romanen, die unbedingt in den USA spielen müssen. Sportass verliebt sich in gemobbtes Missbrauchsopfer wäre auch im Ruhrgebiet möglich. Stürmer statt Quarterback – ginge ja auch.

Es tut mir mitunter weh, wenn ich Romane von Kollegen lese, die sie in einer Umgebung angesiedelt haben, die sie nur vom Hörensagen oder aus Filmen kennen. Ich würde mich nie trauen, einen Roman aus der Sicht von Amerikanern zu schreiben. So viel kann man gar nicht recherchieren. Als ich im vergangenen Jahr in den USA meinen Krimi „Das 2. Gesicht“ geschrieben habe, bin ich von einer Ohnmacht in die nächste gefallen. Der Roman spielt in Florida, allerdings erzählt aus der Sicht einer Deutschen, die dorthin kommt. Haben deutsche Krimischreiber schon mal davon gehört, dass man jeden Handy-Besitzer überall in den USA orten kann, egal ob sein Telefon an- oder ausgeschaltet ist? Dieser Dienst kostet jeweils 99 Cent und ist im Abo erhältlich. Ich wusste auch nicht, dass es ein Internet-Portal gibt, in das ich Namen und Adresse eines Menschen eingebe und innerhalb von Sekunden Auskünfte erhalte, für die man in Deutschland ein Detektivbüro engagieren müsste. Zum Beispiel wie viel Steuer jemand bezahlt, wie viel wert sein Haus ist, in welcher Höhe Hypotheken valutieren und ob sie regelmäßig bedient werden; ob derjenige einen Führerschein oder einen Pilotenschein hat, in welchen Clubs er Mitglied ist. Ich erfahre sogar, ob jemand, der einer Sexualstraftat bezichtigt (!) wird, im Umkreis von einer Meile wohnt. Dieser Dienst ist ebenfalls im Abo zu beziehen. Allein diese beiden URLs machen einen Krimi nach deutschem Strickmuster fast unmöglich. Nimmt man dazu noch die in den USA allgegenwärtigen Überwachungskameras, dann fühlt man sich beim Plotten wie in einer Zwangsjacke.

Aber muss einen so was interessieren, das wissen doch die dummen deutschen Leser nicht? Wenn schon nicht USA, dann sollte es ja wenigstens Berlin sein. Berlin ist sexy, immer mehr Romane spielen in Berlin. Also lese ich in einem Krimi vom Treppendienst in einem Berliner Miethaus, von einer Frau, die über ein Berliner Treppengeländer vier Stockwerke bis in den Keller geworfen wird und von einem Haus in Kreuzberg, das über einen Vorgarten und über Gärten hinter dem Haus betreten wird. Leute, wir haben keine Kehrwoche und in Kreuzberg stehen Häuser nach der Baupolizeiverordnung aus dem 19. Jahrhundert, die haben Hinterhöfe, Seitenflügel und Hinterhäuser. Ganz bestimmt wurde aber im Treppenhaus kein Millimeter Platz verschenkt für eine Leiche, die man in den Keller werfen könnte. Einem Robert Ludlum verzeiht man vielleicht die Felder hinter dem Ku’damm. Zumindest in Vor-google-Zeiten.

Bevor wir also über Handwerk reden, sollten wir über Authentizität reden. Warum bekennt sich niemand zu Castrop-Rauxel? Kann man sich dort nicht verlieben, keinen Menschen abmurksen oder Vampire durch die Nacht schleichen lassen?

Es muss nicht immer Chicago sein.

 

 

 

 

 

 

2 thoughts on “Chicago oder Castrop-Rauxel – Segen und Fluch des Unbekannten

  1. Es hat viel Spaß gemacht mit dir über die Bücher und den Gegensatz von Loan und Paradox zu diskutieren. Über Geschmack lässt sich natürlich nicht streiten, über Literaturtechick, Plots und Umsetzung schon. Du warst ein fairer, guter und kompetenter Gesprächspartner. Ich freue mich auf unsere nächste Begegnung.
    Im Übrigen gebe ich dir im Meisten Recht, vor allem dem Authentizitätsaspekt deines beitrags kann ich nur beistimmen.
    Danke für die schöne gemeinsame Jurybegegnung.

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