Es war in jenem Sommer, in dem der Schäferhund Rolf und ich endlich Frieden schlossen. Rolf gehörte meiner Tante und die war, wenn man Tanten in Klassen einteilen könnte Premium. Wer hatte schon eine Tante mit einem Schäferhund, zwei Affen und einem Bootshaus in „Klein Venedig“ am Stößensee? Den Schäferhund und das Bootshaus hatte sie von ihrem verstorbenen Mann geerbt, die Affen kamen von ihrem Lover, einem Flugkapitän, der kein Flugkapitän, sondern ein Heiratsschwindler war. Aber das wusste Tantchen in diesem Sommer noch nicht und auch nicht, dass sie im Jahr darauf kein Bootshaus und keinen Lover mehr haben würde. Aber in diesem Sommer war ihre Welt noch in Ordnung und auch ich schwebte auf Wolke sieben. Meine Eltern hatten mich in den großen Ferien bei Tantchen in Berlin abgegeben, drei Wochen Freiheit und Abenteuer. Ohne Eltern, mit zwei Affen, einem Schäferhund und sehr vielen netten Bootsbesitzern, die mich gern mitnahmen bei ihren Fahrten durch die Berliner Wasserwelt. Einer dieser Bootsbesitzer arbeitete in einer Schokoladenfabrik und so kam ich zu Schokolade im Zehnerpack. Und mit dieser Schokolade bestach ich Rolf. Meinen Erzfeind, denn Rolf war eifersüchtig auf mich, er hatte mich einmal sogar gebissen. Aber Rolf hatte eine beherrschende Leidenschaft und die hieß: Schokolade. Die wurde ihm in homöopathischen Dosen verabreicht, weil Rolf davon Blähungen kriegte. Aber wenn Schokolade im Schrank war, dann setzte sich Rolf davor und heulte so lange wie ein verliebter Wolf, bis Tantchen Erbarmen hatte. Natürlich bettelte er auch mich an, als er meinen Zehnerpack erschnüffelte und ich gab ihm Schokolade. Alle zehn Tafeln hat er mir abgeluchst, danach hat er meine Hand geleckt und seine Schnauze in meinen Schoß gelegt.
Aber eigentlich erzähle ich diese Geschichte nicht wegen Rolfi, sondern wegen Floridaboy und anderen Träumen. Floridaboy hieß eine Orangenlimonade – wahrscheinlich von Schultheiss – die Tantchen in ihrer illegalen Kneipe im Bootshaus verkaufte. So wie Rolf Schokolade liebte, liebte ich Floridaboy. Aber auch Lulu, eine der beiden Meerkatzen, liebte Floridaboy. Was dazu führte, dass wir uns immer gegenseitig die Flaschen klauten. Sobald ich eine Flasche von meiner Tante bekam, hüpfte Lulu auf einen Schrank und beobachtete mich so lange, bis ich die Flasche irgendwo abstellte, dann sprang er vom Schrank, griff sich die Flasche und sprang laut lachend auf den Schrank zurück. Mit der Nummer hätten wir im Zirkus auftreten können. Natürlich jagte ich den Affen quer durch Tantchens Holzhäuschen (heute würde man das Gingerbreadstyle nennen – sehr floridianisch).
Schlafen durfte ich in einer Kammer hinter dem Haus. In dieser Kammer lernte ich Jerry Cotton kennen, Tantchen hatte etliche Exemplare in ihrer illegalen Kneipe ausliegen. Es waren meine ersten Krimis, ich war in jenem Sommer zehn Jahre alt und all das ist 50 Jahre her. Es war herrlich, ich konnte die ganze Nacht lesen, ohne dass irgendwer es mitkriegte. Bis auf jenen unglücklichen Tag, an dem ich Rolfi zehn Tafeln Schokolade verfüttert hatte. Mitten in der Nacht öffnete meine Tante die Tür und schmiss – jawohl, sie schmiss! – Rolfi hinein. „Zur Starfe schläft er bei Dir“ rief sie und knallte die Tür zu. Rolfi schaute mich mit seinen treuen Augen schuldbewusst an, legte den Kopf zur Seite und furzte wie ein Bierkutscher.
Das waren meine ersten Begegnungen mit Florida, mit Krimis und mit Haustieren. Es war der schönste Sommer meiner Kindheit, was mir davon blieb, waren die Erinnerung, die Liebe zu Krimis und ein warmes Gefühl, wenn ich das Wort Florida nur hörte.
Vier Jahre später flog ich zum ersten Mal mit meinem Vater und zwölf verklemmten Ingenieuren nach Florida – sie hatten mich auf diese Reise quer durch die USA mitgenommen, weil keiner von ihnen genug Englisch konnte, um auch nur unterwegs einen Burger zu kaufen. Wir waren einen Tag in Miami, alle wollten schnell weg, auf die Bahamas, weil Miami soooo schrecklich war.
Mein Herz schlug für San Francisco, für Los Angeles, für Kalifornien. Na klar, es war die Zeit von Flower Power und es war die Zeit in der ich Margret Millar und Ross McDonald für mich entdeckt hatte.
Es sollte 25 Jahre dauern, bis ich wieder nach Florida kam. Zum Erholen, drei Tage zwischen New York und New Orleans. Es war Liebe auf den ersten Blick. Ich kam wieder. Immer wieder. Und dann lernte ich auch noch meinen Floridaboy kennen. Er war zwei Wochen bevor ich mit einer Freundin nach Florida reiste, selbst in Florida gewesen und gab mir auf meine Reise von jeder Stadt Landkarten mit und Promotionsflyer von guten Geschäften und Restaurants. So sorgte er dafür, dass ich fern von Berlin entdeckte, dass das der richtige Mann für mich war. Klar, dass uns unser erster gemeinsamer Urlaub nach Florida führte. Bei dem wir uns dann fast getrennt hätten. Eigentlich konnten wir uns nie einigen. Er liebte Fort Lauderdale, ich bin bekennender Miami-Fan. Vor 20 Jahren fanden wir dann einen Kompromiss. Wir fuhren zum ersten Mal nach Southwest Florida und mieteten ein Haus mit Pool, mit Auto und Boot in Cape Coral. Als wir mit unserem roten Cabrio zum ersten Mal über die Brücke über den Caloosahatchi fuhren und das Schild „Welcome to Paradise“ in Sichtweite kam, ließ sich meine Seele direkt neben einem Pelikan auf der Brücke nieder. Als wir nach drei Wochen abfuhren, fragte ich meine Seele, ob sie mitkommen wolle. Meine Seele schüttelte den Kopf und blieb.
Ich wäre auch am liebsten geblieben. Aber wir hatten und haben immer solche Berufe gehabt, die unsere ständige Anwesenheit in Deutschland verlangten. Einmal haben wir sogar einen Roman geschrieben, der in Florida spielt, nur um unsere Sehnsucht zu stillen. Wir werden diesen gemeinsam geschriebenen Roman in diesem Jahr veröffentlichen, auch deshalb sind wir hier.
Außer einer ziemlich durchgeknallten Tante hatte ich noch einen außergewöhnlichen Vater. Der sich mit 63 Jahren pensionieren ließ und sich sofort selbständig machte. Er hat bis er 78 war gearbeitet und weltweit seine Erfindungen verkauft. Die führten ihn in die tollsten Länder dieser Welt. Er arbeitete monatelang in Amerika und Mexiko, in Japan und Korea, in Brasilien und Indien. Er richtete Werke ein, konzipierte für seine Kunden Produktionsstraßen. So blieb er immer ein halbes Jahr vor Ort, bis alles so lief, wie es laufen sollte. Am häufigsten lebte er in Palm Springs, da war sein erster Kunde, der ihn sozusagen rumreichte. Nach Acapulco, Hawaii und Sao Paulo.
Ich war immer stolz auf meinen Alten. Er hatte mir vorgemacht, dass man auch im Alter noch etwas auf die Beine stellen kann. Aber auch ein bisschen neidisch. Denn ich hatte nun mal keinen Beruf, mit dem man egal wo auf der Welt arbeiten kann. Wie oft habe ich davon geträumt, in Cape Coral arbeiten zu können.
Und dann wurde das Internet erfunden und amazon. Träume können wahr werden. Jetzt sitze ich hier mit Blick auf den Pool und auf die Kanäle und versuche einen Krimi zu schreiben. Ich habe noch nicht eine einzige Zeile produziert. Weil jeden Tag etwas dazwischen kam. Da muss der Satz für das Taschenbuch Korrektur gelesen werden, da wird mit Anwälten wegen Verträgen korrespondiert, da muss das Hörbuch zur Freigabe abgehört werden. Das CD-Cover muss getextet, die Titelei muss zusammengestellt werden, da sind Interviewwünsche zu beantworten und die Übersetzerin hat Fragen und der Verlag auch. Das Schriftstellerleben in Cape Coral ist genauso arbeitsintensiv wie zu Hause. Dabei dachte ich, dass ich hier mal ein paar Tage ganz in Ruhe würde schreiben können. Von dem Gedanken muss ich mich wohl verabschieden. Ruhe ist erst auf dem Friedhof.
Mein Blick vom Schreibtisch auf den Pool und die Kanäle.