Wahlbüro 707: Wer die Wahl hat, hat die Qual

Ich bin als Erste da. Das ist mir noch nie passiert. Morgens um sieben ist im Seniorenheim in Schlachtensee die Welt noch in Ordnung. Nicht einmal ein Hauch von Kaffeeduft zieht durch die gelb-roten Gänge mit den Geländern an den Wänden. Sehr schnell gesellen sich andere Wahlhelfer zu mir. Alles Lehrer, beziehungsweise Lehrerinnen, wie ich sehr schnell lerne. Die bekommen anderthalb freie Tage für ihren Einsatz als Wahlhelfer. „Wieso“, frage ich, „Ihr habt doch schon so viel Urlaub?“ „Aber immer innerhalb der Ferien, Reisen außerhalb der Ferienzeit, auch wenn sich der Flug nur um einen Tag nach hinten verschiebt, spart viel Geld.“ Wahlsonntag als wundersame Geldvermehrung. Es sei den LehrerInnen gegönnt.

Die Wahlvorsteherin kommt mit ihren zwei Töchtern, die ebenfalls Wahlhelfer sind, als Letzte. Wir beziehen Quartier im Speisesaal des Seniorenheims. Dort werden wir informiert, dass wir „repräsentativ“ sind. Was das bedeutet, erfahre ich später. Karola, die Schriftführerin, (Deutsch und Biologie), gesteht, dass sie das auch das erste Mal macht. Während die Beisitzer die Fahnen in der richtigen Reihenfolge aufhängen (Europa, Deutschland, Berlin v.l.n.r.), das Wahlbüro ausschildern, unerlaubte Parteienwerbung im Umkreis entfernen und die Wahlkabinen und -urne aufstellen, forsten wir das Wählerverzeichnis durch. Es ist nicht nach Namen sortiert, sondern nach Straßen und Hausnummern. Die a, b, c-Nummern stehen jedoch am Anfang. Die einzelnen Häuser sind auch nicht nach Bewohner im ABC sortiert, Ehegesponste mit Doppelnamen nehmen ebenso eine Sonderstellung ein wie die vons dieser Welt. Und es gibt viele vons in Schlachtensee.

Wir schaffen es in knapp einer Stunde, das Wahllokal aufzubauen und jeder weiß – zumindest – ungefähr, was zu tun ist. „Repräsentativ“ heißt: zusätzliche Arbeit. Während in jedem anderen Wahllokal der Ausweis nur ein- oder zweimal gezeigt werden muss, werden unsere Wähler die ID dreimal zücken müssen. Am Eingang, um die richtigen Stimmzettel zu erhalten. Nach Abgabe der Stimme, um im Wählerverzeichnis gefunden zu werden. Und dann zu repräsentativen Zwecken, weil ihr Geburtsjahrgang und ihr Geschlecht statistisch erfasst wird. Eine Wählerin wird später sagen: „Wenn an unseren Grenzen die Ausweise auch so oft und ordentlich kontrolliert werden würden, dann hätten wir keine Probleme.“

Außerdem erhalten unsere Wähler Genderwahlzettel, also solche, auf denen ihr Geschlecht vermerkt ist. Nun gibt es viele Rechtsanwälte unter unseren Wählern und ebenso viele fragten uns mit gerunzelter Stirn, ob dies rechtlich überhaupt vertretbar sei. Tja. Wenn Ihr das nicht wisst!

Die Wahlvorsteherin, die nicht eine Sekunde den Eindruck macht, dass sie genau wüsste, was sie da tut, teilt nun die Belegschaft in zwei Gruppen ein: Die eine Schicht soll vormittags frei haben, die andere nachmittags. Wie jetzt? Das war uns vom Landeswahlleiter so nicht gesagt worden, er sprach von einem Zwölf-Stunden-Tag.

Die Überlegung, wer geht und wer nicht, geht unter im Ansturm der Wähler, der pünktlich um acht Uhr über uns hereinbricht. Schlachtensee, der Ort der Frühaufsteher!

Bereits nach einer Viertelstunde merken Karola und ich: So geht das nicht. Wir sitzen zu Zweit über dem Wählerverzeichnis, eine diktierte Anschrift und Namen, eine suchte sich die Augen fusselig. Die Schlange vor unserem Tisch wird immer länger. Wir beschließen, die Sore zu teilen, also einer von A-F, der andere den Rest vom Schützenfest. Allerdings gibt es nur einen Ordner. „Ich düse nach Hause und hole Register und einen zweiten Ordner“, sage ich und schon sieht man von mir eine Staubwolke. Eine Maßnahme, die sich im Laufe des Tages als segensreich erweisen wird: Vor dem Nachbarbüro meanderten sich lange Schlangen bis draußen auf die Straße, bei uns geht es meist recht zügig voran, dank Herrn Leitz und der Erfindung der alphabethischen Trennblätter. Wieso der Landeswahlleiter seine Schriftführer mit so unbrauchbarem Material ins Gefecht schickt, blieb ein Rätsel.

Da die stellvertretende Wahlvorsteherin weit entfernt wohnt und keine Lust auf einen freien Vormittag hat, verschwindet unsere Wahlvorsteherin inklusive Töchtern bis einschließlich 17.00 Uhr. Spätestens eine Viertelstunde später steht die Stellvertretende Wahlleiterin kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Denn sie muss nun gleichzeitig die Statistik führen, das heißt, jeden um seinen Ausweis bitten, um das Geburtsdatum zu ermitteln, um 12.00 und um 16.00 Uhr aktuelle Zwischenberichte über Wahlbeteiligung, Geschlecht und Alter an den Landeswahlleiter übermitteln, bei Zweifelsfällen beim Landeswahlleiter zur Klärung anrufen und gleichzeitig jedem Wähler in unserem Büro die Urne zum Versenken der Wahlzettel freigeben. Der Schlitz darf nicht offen sein, damit niemand ungesehen irgendwelche Zettel da hinein schmuggeln kann. Die nette junge Lehrerin (auch Deutsch), rotiert um ihre eigene Achse. Das ist schlicht Körperverletzung!

Karola und ich, die wir als Schriftführer eingesetzt sind, merken sofort, dass keiner von uns beiden auch nur eine Minute weggehen kann, sogar schon Toilette ist problematisch. Also Hochziehen. Um die Deutschlehrerin zu entlasten, raunen wir ihr den Geburtsjahrgang immer zu, so dass unsere Wähler nicht zum dritten Mal ihren Ausweis zeigen müssen und die Deutschlehrerin nur noch ein Häkchen zu machen braucht. Dafür habe ich jetzt Muskelkater, weil man sich dafür immer nach links drehen muss, Karola bekommt Kopfschmerzen.

Wir hoffen darauf, dass das Wahlbüro sich um die Mittagszeit leeren wird: Irrtum. Bis 18.00 Uhr reißt der Strom der Wähler nicht ab. Als ich um halb vier einmal herzhaft in meine mitgebrachte Stulle beiße, weil mir schon ganz schlecht vor Hunger ist, ranzt mich ein älterer Herr (Dr. wie sich später herausstellt) an, dass man genau deshalb diesen Senat abwählt. Ich solle doch mal Zeitung lesen, diese unkooridnierten Beamtenärsche…. Es war nur einer von fast tausend Wählern, der nicht freundlich war. Und da soll noch einer sagen, die Berliner sind muffelig.

Wahl Berlin
Wahl Berlin
Die Wahl ist gelaufen
Die Wahl ist gelaufen

 

Als wir endlich, endlich um 18.00 Uhr die Tür schließen können, beginnt das, wovor wir am meisten Horror hatten: das Auszählen der Stimmen. Die Summe muss identisch sein mit unseren Vermerken im Wählerverzeichnis. Und oh Wunder, trotz der Hektik an unserem Tisch: es stimmt. Wir machen die Gegenprobe. Stimmt auch.

Das Ergebnis in unserem Wahlkreis: Die CDU erhält die meisten Stimmen und auch die FDP liegt weit über 20 %. Kein Wunder, es wohnen viele Freiberufler, Unternehmer und leitende Angestellte in Schlachtensee. AfD und Linke gleichauf, aber ganz weit unter dem Berliner Durchschnitt.

Als ich um halb neun das Wahllokal verlasse, tränen mir die Augen. Ich habe 50 Euro „Erfrischungsgeld“ bekommen und es sofort beim Italiener in Cocktail und Wein umgerubelt. Jetzt weiß ich, wie es funktioniert, hinter den Kulissen einer Wahl. Schriftsteller sind so was von neugierig!

 

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