Was interessiert mich der Quatsch, den ich gestern erzählt habe? So könnte man jedenfalls meinen, wenn man sich meinen neuen Krimi „Der 6. Geburtstag“ anschaut. Denn dort habe ich genau das getan, was ich immer lauthals abgelehnt habe: Der Krimi spielt in den Neuenglandstaaten, die ich zwar wochenlang bereist, aber in denen ich nie gelebt habe, und meine Protagonisten sind Eingeborene. Warum bin ich also meinen ehernen Grundsätzen untreu geworden?
Normalerweise kann man sich in Lubitsch-Krimis darauf verlassen, dass ich nur über Gegenden schreibe, die ich kenne wie den Inhalt meiner Handtasche. Ob Berlin oder Cape Coral in Florida, ob Bournemouth in England oder Lyon in Frankreich – das sind Plätze, an denen ich gelebt habe. Wie oft habe ich den Kopf geschüttelt über Kollegen, die ihre Romane in Länder versetzt haben, die sie nur von Google Earth her kennen. Und ihren ausländischen Protagonisten ganz und gar deutsche Eigenschaften angedichtet haben. Bisher waren meine Protagonisten alle Deutsche. Und jetzt das!
Im Internet bin ich auf einen Kriminalfall einer Frau aus Philadelphia gestoßen, der mir schier den Atem geraubt hat. Wie bitte? Das war doch gar nicht möglich? Oder? Mehr will ich hier nicht verraten, denn sonst ist für künftige Leser die Spannung hin. Die Story der Frau hat mich total fasziniert, auch wenn man im Internet nur einige dürre Zeilen über den Fall gefunden hat. Ich recherchiere immer über aktuelle oder alte Kriminalfälle, wenn ich über eine Geschichte stolpere, die meine Fantasie anregt, notiere ich mir den Fall und versuche dann später die Story als Ausgangspunkt für eine eigene Geschichte nach Deutschland zu adaptieren.
Aber diesmal ging das nicht. So erschreckend die Geschichte war, sie hätte sich so nie in Deutschland abspielen können. Denn wir haben ein Sozialsystem, das die meisten menschlichen Katastrophen verhindern würde. Und wir haben auch ein Rechtssystem, das kaum Schlupflöcher bietet und eine relativ einfach strukturierte Polizei.
Also habe ich die Geschichte in die Vereinigten Staaten versetzt. Ich brauchte dazu mehrere Bundesstaaten, die nebeneinander liegen. Meine Wahl fiel wegen der Nähe zu Kanada auf die Neuenglandstaaten. Beim Schreiben merkte ich, dass der wahre Horror noch hinter der Story steckte. Von Tag zu Tag ging mir selbst das Schicksal der Familie Nolen mehr an die Nieren, als ich merkte, wie sich das Netz um meinen Protagonisten Robert langsam zuzog.
Es fing so harmlos an und dann kamen die Erinnerungen an die Krankenhäuser in den USA, an die Tänze mit den Versicherungen, an die Berichte von Freunden über ihre Jobs.
„Der 6. Geburtstag“ ist ein amerikanisches Familiendrama vor der wunderschönen Kulisse der Neuenglandstaaten geworden. Eine Reise in ein Land, das ich so heiß und innig liebe wie kein zweites, von dem ich aber inzwischen auch weiß, dass ich dort niemals für immer leben möchte. Und so hat mir „Der 6. Geburtstag“ auch Deutschland wieder ein Stück näher zu meinem Herzen gebracht. Jeden Tag, wenn ich in die Geschichte von Robert und Joleen Nolen eingestiegen bin, war ich dankbar, dass ich in einem so gut funktionierenden Sozialstaat leben darf, mit einem verlässlichen Krankenversicherungssystem, einem gesetzlichen Urlaubsanspruch und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall.
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Zu „AlligatorStaaten“
Ubi bene ibi patria musses heissen