70 Jahre und ein bisschen leiser

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Heute habe ich genullt. Ich hasse Nullen. In meiner Erinnerung waren diese Geburtstage immer belastet. Mit zehn bin ich auf das Lyzeum gekommen, wie man die Oberschule damals nannte. Abschied von meinem besten Freund, der neben mir in der Schule gesessen und – um mich nicht allein zu lassen – tapfer Topflappen gehäkelt hat, anstatt wie die anderen Jungs zum „Werken“ zu gehen. Mein Vater war mit Herzinfarkt zu Hause und tyrannisierte mich mit seinen ewigen Fragen: „Wie viele Doppelzentner hat eine Tonne?“ Ich antwortete mit hohem Fieber und blieb im Bett, wo ich ungestört Karl May lesen konnte. Der Kinderarzt riet: Ab ins Internat zu den frommen Schwestern. 

Zwanzig war ebenfalls grottig. 1973 wurde man erst mit einundzwanzig volljährig, ich musste also nach Vaters Pfeife tanzen. Es war das Jahr, in dem ich Abitur machte. Um Daddy zu ärgern, der meinte, ich solle Sekretärin werden und meinen Chef heiraten, begann ich ein Jurastudium. Ohne Leidenschaft und meist ohne meine Anwesenheit. Das Leben lag wie ein riesiges, kaltes Buffet vor mir und ich stürzte mich darauf wie eine Verhungernde. Jobs als Reiseleiterin nach Prag, Rom, Paris und London, Parfüm-Promotions im KaDeWe, Hostess auf der Grünen Woche, ein Hoteljob und ein Lover in Italien, ein Freund in Hamburg. Es war das Jahr, das all meine Pläne auf den Kopf stellte: An meinem einundzwanzigsten Geburtstag unterschrieb ich einen Mietvertrag für meine erste eigene Wohnung, einige Tage später gründete ich zusammen mit meinem französischen Freund meine erste Firma, eine Künstleragentur. Ein Jahrzehnt des Suchens und Ausprobierens begann, es ging hoch und runter, wir betrieben zwei Theater, wir waren pleite, ich ging zu dpa, wurde Promotionschefin in Europas größtem Musikverlag, leitete das Multivisionstheater, ging als Werbeleiterin in einen Filmverleih und landete endlich bei einer kleinen Berliner Werbeagentur, die nicht lange klein blieb.

„Traue keinem über dreißig“, hieß es damals. Ich war dabei, mich von meinem Freund zu trennen, wollte am 1. März nach Luxemburg zu RTL gehen. Der Agentur hatte ich versprochen, wenigstens noch die Pressestelle für die CMA auf der Grünen Woche zu leiten. Davor hatte ich den totalen Horror und nur die Aussicht auf meinen neuen Job als Radioproducerin ließ mich das entspannt angehen. An meinem Geburtstag ging ich zu einer Wahrsagerin. Sie sagte voraus, dass ich nicht ins Ausland gehen würde, sondern in Berlin bleiben würde. Eines Tages würde mir die Firma, in der ich jetzt arbeitete, gehören und ich würde noch mehrere Firmen in meinem Leben gründen. Ich würde sehr spät heiraten. Enttäuscht ging zu drei weiteren Wahrsagerinnen und alle sagten das Gleiche: Luxemburg? Nö!

Und tatsächlich ging ich nur für ein paar Wochen nach Luxemburg, die lukrative Freelancer Basis, die man mir nach einigen Probewochen im Sommer angeboten hatte, wurde durch neue Mitarbeiterregeln durchkreuzt. Man bot mir eine Festanstellung an, dafür bin ich nicht freiwillig im Arbeitscamp Luxemburg geblieben. Und so kehrte ich zurück in die Werbeagentur nach Berlin, die mir eines Tages gehören sollte. Tat sie, zum Teil zumindest.

Vierzig, mit Vollgas in die Rushhour des Lebens. Meinen vierzigsten Geburtstag habe ich schon mit meinem jetzigen Ehemann verbracht. Blöd nur, dass ich immer noch jedes Jahr die Grüne Woche betreuen musste, mein Mann vom Jahresendgeschäft aufgefressen wurde und wir wie jedes Jahr im Dezember kaum Zeit für uns hatten. Meine Firma florierte, auch wenn es mit Daimler-Benz ein heftiges Hin- und Her gab, bevor wir endlich doch die Bauarbeiten zum Potsdamer Platz mit PR-Events betreuen durften. 

Zehn Jahre Balancieren auf dem Hochseil. Dann kam der Absturz. Mein fünfzigster Geburtstag war wohl der traurigste meines Lebens. Meine Mutti war ein paar Tage vorher gestorben und ein paar Monate vorher hatte ich meine Firma beerdigen müssen. Dazu war ich mitten in den Wechseljahren, die mir gewaltig zusetzen. Ich habe „Mein letzter Tampon“ geschrieben, mein erstes Buch, das von einem Verlag veröffentlicht wurde. Zusammen mit meinem besten Freund habe ich eine neue Firma gegründet, ich saß in der Hakeburg in Kleinmachnow, schaute auf den See und hatte Null Bock, für irgendwen PR zu machen oder riesige Events zu organisieren. Ich wollte nur noch eins: Schreiben. Aber kann man davon leben?

Mein sechszigster Geburtstag. Endlich rundum glücklich. Ich hatte bereits zwei Bestseller auf dem Markt, wir waren zwei Tage zuvor für ein halbes Jahr nach Florida in eine Traumvilla gezogen und eigentlich war alles toll. Nur, dass mein Mann kurz vorher hingefallen war und seitdem nicht mehr laufen konnte. Der Geburtstag erwies sich als Totalausfall, böse Nachrichten aus Berlin platzten hinein in die morgendlichen Glückwünsche. Abgesehen von diesem besonderen Tag – meine Sechziger Jahre waren die besten und erfülltesten meines Lebens. Endlich bin ich da angekommen, wo ich immer hinwollte, kann endlich das tun, was ich am liebsten tue, dort, wo ich es am liebsten tun will. Körper und Geist sind zur Ruhe gekommen. 

Heute ist mein siebzigster Geburtstag. Die Sturm und Drang-Zeit ist vorbei. Ich habe mir in meinem Leben alle meine Träume erfüllt: Ich lebe in einer glücklichen Ehe, bin weit gereist, durfte mit den ganz Großen dieser Welt arbeiten und habe sechsunddreißig Bücher geschrieben, die alle auf der Bestsellerliste gelandet sind. Ich hoffe, noch ein paar schreiben zu können, die auch noch Leser finden. Das Einzige, was ich mir wünsche, ist Gesundheit, vor allem für meinen Mann.  

Man wird bescheidener, wenn man älter wird. Und ich bin in den letzten Wochen eins geworden: leiser. Angesichts all des Schwachsinns in dieser Welt, der mir täglich mit den neusten Nachrichten ins Haus weht, bin ich fast sprachlos geworden. Was soll man auch dazu sagen, außer: Wie gut, dass ich schon so alt bin.  

Auf nüchternen Magen

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Die Fehler häuften sich in der letzten Zeit, von Tag zu Tag fielen mir meine täglichen Aufgaben schwerer. Als ich dann noch mein letztes Buch „Route 21“ durch meine eigene Dusseligkeit im Nirwana versenkt hatte, war mir klar: So geht es nicht weiter. Ich brauchte dringend eine Ruhepause, die letzten zwei Jahre waren anstrengend. Ich träumte von zwei Wochen, in denen ich mich nur um mich kümmern konnte. Da ich wegen all der Sorgen um meinen Schatz auch noch mit der freundlichen Unterstützung von Milka und Lindt mein Schlachtgewicht erreicht hatte, drängte sich mir die Idee von einem Fastenurlaub auf. Kirsten Wendts Fastenklassiker „HonigSaftBrühe“ tat ein Übriges, um mich davon zu überzeugen, dass das genau das Richtige für mich wäre. 

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Vorsichtig tastete ich mich bei Mausebär vor. Wir haben seit dreißig Jahren immer gemeinsam Urlaub gemacht, waren nie länger als eine Nacht getrennt, wie würde er die Idee von meiner erträumten Auszeit aufnehmen? Mausebär wäre nicht mein Mausebär, wenn er mich nicht sofort in meinem Vorhaben unterstützt hätte. Also habe ich mich kurzfristig auf die Suche nach einem freien Plätzchen in einer Fastenklinik gemacht.

Im Februar hätte sich eigentlich Marbella angeboten. Aber das konnte ich Mausebär nicht antun, mein Schatz hat dort viel gearbeitet und in Puerto Banús sein Boot liegen gehabt. Ich wollte zwar Urlaub, aber ihm nicht das Herz brechen.

Also die Buchingerklinik in Überlingen. Mit der Rezeption habe ich zeitnah freie Termine gefunden, allerdings zeigte sich bei der Reiseplanung, dass ich – egal ob mit Flieger oder Bahn – immer mindestens neun Stunden Anreise hätte. Gab es denn keine Alternative? Doch. 

Es gibt eine Buchingerklinik in Bad Pyrmont. Und die hatten sogar noch kurzfristig ein Zimmer für mich frei, wenn auch nicht im renovierten Gebäudeteil. So what, Buchinger, ich komme. 

Und so landete ich in Bad Pyrmont, im schönen Weserbergland. „Hier gibt es ja richtige Berge“, sagte ich erstaunt zum Taxifahrer. Der lachte. Mich aus, wahrscheinlich. 

WeserBERGland

Die Klinik empfing mich freundlich und mit sofortigem Programm. Kaum hatte ich meinen Koffer im Zimmer, war auch schon der erste Arzttermin angesagt. Dottore war durchaus sympathisch, aber mit seiner untersetzten Statur und seinem Bierbauch eher nicht als Aushängeschild für eine Fastenklinik geeignet. Der Doktor erwies sich als Vitaminapostel („ich nehme jeden Morgen 15 Pillen“) und riet mir zu einer Detoxkur und Myer’s Cocktail, nach dem man einen unglaublichen Energiekick fühlen sollte.  Vorsorglich sollte ich neben der normalen Blutuntersuchung eine erweitere Blutanalyse machen lassen, um meine Vitamindefizite zu erkennen und beheben zu lassen. Ich nickte also die zusätzliche Untersuchung ab (125 € extra) und buchte Detox und Myer’s Cocktail (200 €), was sich als zweistündige Infusion von verschiedenen flüssigen Mineralstofffen und Vitaminen entpuppte. Auf den Energiekick warte ich bis heute. 

Direkt nach dem Arztbesuch bekam ich eine Kanne mit aufgelöstem Glaubersalz auf mein Zimmer, das ich an diesem Abend deshalb nicht mehr verlassen konnte. Nach fünf Stunden war die Darmreinigung abgeschlossen und ich sank erschöpft vor dem Fernseher darnieder. 

Am nächsten Morgen bin ich dann zum Wiegen, ich wog zwei Kilo weniger als bei meiner Abreise zu Hause, was wohl dem Einsatz von Glaubersalz geschuldet war. Danach runter ins Schwimmbad, ich liebe es, früh morgens zu schwimmen und ich war auch ganz allein im angenehm temperierten Pool. Das, so beschloss ich, würde ich jetzt jeden Morgen machen. 

Frühstück gibt es bei Buchinger nicht, Kaffee ist strengstens verboten, es wird dreimal am Tag ein Kräutertee in den Zimmern gereicht. Ich bat um schwarzen Tee, denn irgendetwas muss meinen Kreislauf ja in Schwung bringen. Dann schnell Termine machen, man hatte mir am Telefon gesagt, dass ich die vor Ort buchen könnte, das wäre Zeit genug. Was sich so als nicht richtig erwies, die erträumten Honigmassagen fanden gar nicht mehr statt, die Kosmetikerin hatte auch nicht mehr als einen Termin für mich und der Krankengymnast kam auf ganze drei manuelle Therapien und eine Fußreflexzonenmassage. Ich ergatterte noch drei Heilerdepackungen. Personalmangel und Corona hatten auch hier zugeschlagen. 

Eigentlich wollte ich mich nicht nur quälen, sondern vor allem Wellness für die Seele. Das kam hier entschieden zu kurz. 

Ansonsten hatte ich einen Terminkalender wie ein Top-Manager: Aquajogging, Kochkurs, Ernährungsberatung, Wassergymnastik, Qigong, Pilates, Shihatsu, Vorträge – ein Termin jagte den anderen. Und dazu kamen noch die Regularien: Täglich einen Einlauf zur Darmreinigung, dreimal in der Woche Wiegen und Blutdruckmessen, mittags einen Saft trinken, danach einen Leberwickel bekommen und abends eine klare Gemüsebrühe zu sich nehmen.  Beim Saft- und Brühefassen habe ich sehr nette und interessante Menschen kennengelernt, so dass die gemeinsamen Mittage und Abende die Highlights des Besuches wurden. 

Nach einer Woche bin ich gespannt auf die Waage gestiegen. Wow! Sechs Kilo abgenommen. Wahnsinn! Ach, was war ich stolz. Zusammen mit drei Frauen, die ich beim Saft-Brühe-Fassen kennengelernt hatte, bin ich nach Hameln gefahren. Tapfer haben wir in einem Café allen Verlockungen der Konditorkunst widerstanden und uns jeweils einen Tee bestellt. Wir waren Heldinnen!

Vor dem Café in Hameln
Wir waren Heldinnen!

Am Montag drauf schüttelte die Waage bedauernd ihren Kopf. Ich hatte gerade mal 200 g abgenommen. Dabei war ich so brav gewesen. Obwohl – Hunger hatte ich eigentlich nie. Bei einem Besuch in Bad Pyrmont merkte ich allerdings, dass ich doch ganz schön wackelig auf den Beinen war. Am Mittwoch beim Wiegen hätte ich dann fast geheult. Ich hatte nichts abgenommen. NICHTS!  

Zwischen meinen Terminen telefonierte ich mehrmals am Tag mit Mausebär. Und abends brachte der Fernseher böse Nachrichten ins Klinikzimmer. Abstand gewinnen sieht wohl anders aus. 

Am 12. Tag war dann endlich Fastenbrechen angesagt. Morgens gab es in Wasser eingeweichte Pflaume. Man musste während der „Mahlzeiten“ in einem ungemütlichen, kalten Speisezimmer sitzen, allein am Tisch und es gab die gleiche Gemüsebrühe wie vorn bei den Kolleginnen, aber mit geraspeltem Gemüseinhalt. Schade, ich hatte mich so auf das Kauen gefreut. Am 12. Tag gab es auf diese Art 600 Kalorien, am 13. und 14. Tag 800 kcal. Nein, geschmeckt hat mir die „Vollwertküche“ nicht. 

eingeweichte Pflaume
Fastenbrechen

Also freute ich mich darauf, endlich nach Hause zu kommen. Am Montag vor meiner Abreise hatte ich dann tatsächlich 200 g zugenommen. 

Würde ich das nochmal machen? Bis zu den Fastenbrechtagen hätte ich gesagt: Ja, ganz sicher. Aber diese vegane Mangelernährung hat mir den Rest gegeben. Langsam bekam ich Aggressionen. 

War das nicht alles ein ziemlicher Humbug? Buchinger ist hier Doktrin, egal ob die Erkenntnisse veraltet sind oder nicht. Sogar die deutsche Gesellschaft für Ernährung bestätigt, dass Kaffee nicht schädlich ist und nicht entwässert und somit zur täglichen Flüssigkeitszufuhr dazugezählt werden kann. 

Dass man nach dem Essen eine halbe Stunde warten muss, bis man ein Schluck Wasser trinken darf, erinnert mich an meine Kinderfreundin Steffi, bei denen es auf Anweisung ihres Vaters (unseres Hausarztes) nichts zu Trinken zum Essen gab. Dabei ist das ebenfalls veralteter Mumpitz und von Wissenschaftlern weltweit widerlegt. 

Die Vitamingläubigkeit vom Onkel Doktor erinnert mich an die Vitaminhysterie meines Vaters, die er in den frühen 60er Jahren aus den USA mitgebracht hat. Solche gepressten Gemüse- und Fruchtsäfte gab es bei uns jeden Morgen zu Hause, Papa hatte meiner Mutter nach seiner Rückkehr aus Amerika einen Entsafter gekauft, wo Mutti jeden Tag Kiloweise Äpfel, Rote Beete, Sellerie und Möhren entsaftete. Dazu warf Daddy noch täglich Vitaminpillen hinterher. Wobei ich in der Zwischenzeit von Ernährungwissenschaftlern gelernt habe, dass eine ausgewogene Ernährung uns genügend Vitamine und Mineralstoffe liefert und überschüssige Vitamine nicht gespeichert, sondern ungebraucht ausgeschieden werden. 

Ob die tägliche Darmreinigung mittels Einlauf wirklich so gesund ist, wage ich auch ohne Wissenschaftler zu bezweifeln. Natürlich ist sie jedenfalls nicht. 

Zwei Dinge haben mich an der Buchingerklinik gestört. Das Personal hatte zum Teil sichtbare Speckrollen (nicht nur der fettleibige Arzt, sondern zum Beispiel auch die Sporttrainerin) und das gesamte Gebäude muss abgerissen und erneuert werden. Das sollte schon vor zwei Jahren geschehen, aber wissen Sie, „Corona“. Ich schaute auf den verschlissenen, dreckigen Teppichboden im Fahrstuhl, ca. 1,5 qm, die hätte man vielleicht trotz Corona erneuern können. Mitfastende haben mir zu meiner Klinikwahl gratuliert. „Überlingen und Marbella sind viel zu Schickimicki, da ziehen sich die Frauen für eine Brühe um. Russen, Araber und kiloweise Gold. Und am Bodensee ist im Februar sowieso nur Nebel.“ Also alles richtig gemacht? Was mir allerdings in Bad Pyrmont gefiel, war die entspannte Atmosphäre, man war casual unterwegs.

Das Fazit meines Besuches wollte ich aber erst stellen, nachdem ich wieder im Alltag angekommen war. Die Frage aller Fragen lautete nämlich: Wie viel hast du in den zwei Wochen tatsächlich abgenommen? Ganz ehrlich? 2 Kilo. Alles andere ist, obwohl ich weiter eine 800 Kalorien-Diät mache, wieder drauf. „Aber es hat doch trotzdem gut getan“, fragte mich die Schwester, die mich am letzten Tag gewogen hat. Hat es? Habe ich in Bad Pyrmont das gefunden, was ich gesucht hatte: Ruhe und Erholung, Rückbesinnung auf sich selbst? 

Juhu, ich fahre nach Hause.

Ich war froh, wieder zu Hause zu sein: bei meinem geliebten Mann namens Mausebär und unserer Katze Schnickschnack. 

Das perfekte Motiv

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 Route 21 – eine mörderische Reise durch Deutschland

Vor eineinhalb Jahren haben wir in Kollegenkreisen heiß diskutiert: Sollten unsere Romane Viren bekommen oder nicht. Nie, nie, nie!, habe ich gerufen. Allerdings konnte sich damals niemand vorstellen, dass der Virenterror uns über Jahre hinweg beschäftigen würde. Wir sehnen uns nach Normalität, wenigstens in meinen Romanen möchte ich meinen Leserinnen und Lesern den ganz normalen Horror bereiten und ihnen damit ein Aus von dem täglichen Horror schenken, lautete mein Argument.

Eineinhalb Jahre später: Wir haben die Schnauze volllll. Mit fünf L. Wir haben keine Lust mehr, die Zeitungen zu lesen, die Nachrichten von heute scheinen die Nachrichten von gestern zu sein, nur die Zahlen steigen, trotz aller Maßnahmen und seit eineinhalb Jahren sehen wir in jeder Talkshow die gleichen zehn Gäste.  Egal welcher Meinung man anhängt, Schuld sind natürlich immer die jeweils anderen. Weil man ja schlecht dem Virus die Schuld geben kann, das lacht sich leider nicht tot, sondern mutiert vor Freude.

Was nun, kleine Schreiberline? Ich kam in eine Bredouille: Die 21 war dran. Im Jahr 2021. Und dann begegnete mir doch tatsächlich ein Plot, der mich faszinierte und ein Titel, der sich aufdrängte: Route 21. Ein Cover erschien vor meinem inneren Auge, das ist immer ein Zeichen, dass etwas perfekt ist, wenn Titel und Bild übereinstimmen. Das jedenfalls habe ich in meinen mehr als zwei Jahrzehnten als PR-Frau gelernt.

Und schon hatte ich den Salat. Der Roman beginnt im Sommer 2021. Er erzählt die Geschichte des durchaus glücklichen Paares Lucky und Cat, beide Ende Zwanzig. Die beiden sind seit ihrer Schulzeit zusammen. Luckys Vater hat Krebs im Endstadium, deshalb wollen die beiden ihren Sommerurlaub in Deutschland verbringen, um bei ihm in der Nähe zu bleiben und eventuell ganz schnell nach Hause fahren zu können. Und sie wollen auf keinen Fall in ein Hotel, aus Angst – und hier haben wir sie! – vor den Viren. Deshalb kaufen sie ein Zelt und treten die Reise mit Luckys Motorrad an. Die „Route 21“ führt die beiden einmal um Berlin herum. Vom Spreewald zu den gefluteten Kohlegruben der Lausitz, nach Dresden und Meißen und die Elbe hoch bis nach Havelberg und dann an die Müritz. An einem mecklenburgischen See endet ihre gemeinsame Fahrt, Cat kehrt allein nach Berlin zurück. Luckys sterbender Vater gibt eine Vermisstenanzeige nach seinem Sohn auf und verrät Cat ein verstörendes Geheimnis. Die junge Frau muss erkennen, dass sie den Mann, mit dem sie seit ihrem vierzehnten Lebensjahr zusammen ist, überhaupt nicht kennt. Als Luckys Leiche auf dem Grund eines mecklenburgischen Sees gefunden wird, gerät Cat durch ihre Vertuschungsversuche ins Fadenkreuz der Ermittlungen. Offensichtlich hatte sie allen Grund nicht nur die Leiche ihres Freundes zu beseitigen: Das perfekte Motiv für einen Mord. 

Ich kann das Genöle nicht mehr hören

Seit über einem Jahr befinden wir uns im Krieg – eigentlich im Krieg gegen ein Virus, das bisher mehr als drei Millionen Tote gefordert hat. Ich habe mal in Soziologie gelernt, dass ein gemeinsamer Feind ein Volk eint. Die ganze Welt hat einen gemeinsamen Feind, aber entgegen aller soziologischer Weisheit liegen nicht nur Länder miteinander im Streit, sondern gefühlt jeder mit jedem.

Ich kann das Genöle kaum noch ertragen: Die einen wollen hüh, die anderen hott, die einen finden die Maßnahmen zu schwach, die anderen zu heftig, einig ist man sich nur darin, alle Schuld auf die Politik zu schieben.

BITTE HÖRT AUF!

So kann man keinen Krieg gewinnen. Stellt euch mal vor, es würde einen Krieg zwischen zwei Ländern geben, so einen ganz altmodischen, mit Flugzeugen, Schiffen und Kanonen in den Feldern. Millionen Tote auf beiden Seiten. Aber die Generäle, die sagen müssten: Da geht es lang, stoßen auf meuternde Truppen. Anstatt die Reihen zu schließen, strategisch die Angriffe aufbauend auf allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu planen, schießen alle wild um sich und meist aufeinander. Die Opfer sind daher groß, auch und vor allem durch friendly fire.

Fast ein Jahr lang habe ich mich über Ministerpräsidentenrunden geärgert, deren Ergebnisse bereits einen Tag vorher von den Medien zerredet wurden, mich am Tag des Stattfindens dem Bett ferngehalten haben und einen Tag später von so manchem Ministerpräsidenten ad absurdum geführt wurden. Jetzt diskutiert sich der Bundestag zu Tode über eine Notbremse, die wir wohl dringender brauchen denn je. Jeden Abend werden in irgendeiner Talkshow die immer gleichen Protagonisten der immer gleichen Meinungen aufeinander losgelassen, wir kennen ihre Argumente, wir können ihre Einlassungen bereits singen. Aber die Medien feuern sie an, als ob es sich um die Weltfestspiele der Meinungsvielfalt handeln würde.

Auf facebook oder twitter beleidigen sich die Menschen gegenseitig und Prof. Youtube weiß sowieso alles besser. Querdenker sollen jetzt gar vom Verfassungsschutz beobachtet werden. Es gibt nicht mehr unseren gemeinsamen Krieg, sondern nur noch „Mein Kampf“. Die einen glauben, dass ihre Kinder den Anschluss verpassen und traumatisiert werden, die anderen sind traumatisiert, weil sie nicht gleichzeitig Home Office und Kindererziehung auf die Reihe kriegen. Die nächsten sind traumatisiert, weil sie ihren dringend benötigten Urlaub nicht antreten können, wieder andere fühlen sich ungerecht kritisiert, weil sie ihren vermeintlich dringend benötigten Urlaub ohne Rücksicht auf Verluste antreten. Junge Leute meinen, die besten Jahre ihres Lebens zu verpassen, alte Leute altern mangels Kontakten doppelt so schnell und Todkranke fühlen sich um ihre letzten Monate betrogen.

Was für eine hysterische Welt!

Die, die wirklich Grund hätten zu meckern, die Künstler, die Veranstalter, die Gastronomen, die kleinen Geschäftsleute, die hört man kaum, weil sie viel zu erschöpft sind, ihren Kopf über Wasser zu halten, als dass sie noch große Kraft zum Meckern hätten. Sie beißen die Zähne zusammen und verfallen in Duldungsstarre.

Statt diesen tapferen Kämpfer in den Schützengräben der Städte zu helfen und uns so schnell wie möglich impfen zu lassen, diskutieren wir auch das wieder zu Tode. Da weigern sich über 60jährige sich mit AstraZeneca impfen zu lassen und denken nicht eine Sekunde daran, dass sie einem Jüngeren damit eine BionTech-Impfung wegnehmen und das Tempo der Impfkampagne drosseln.

Andererseits wird täglich in den Medien beklagt, dass Deutschland nicht Impfweltmeister ist. Wie jetzt, wir sind nicht Klassenbester? Katastrophe! Was interessiert es uns, wie viele Leute in Ghana geimpft sind, wir schielen auf Israel oder die USA und sind sauer. Die sind ja besser als wir. Dass Viren keine Grenzen kennen, scheint sich bis in die deutschen Medien noch nicht rumgesprochen zu haben.

Ich habe mein ganzes erwachsenes, politisches Leben lang FDP gewählt. Weil ich auf die Eigenverantwortung jedes Menschen gesetzt habe. Freiheit war für mich das höchste zu verteidigende Gut. Die allerdings da aufhört, wo die Freiheit eines anderen eingeschränkt wird. In Zeiten von Corona habe ich gelernt, dass ich mich in den Menschen geirrt habe. Jeder ist sich selbst der Nächste, Eigenverantwortung gehört ins Reich der Märchen und Sagen. Unserer Gesellschaft ist das soziale Denken abhanden gekommen.

Ich glaube, in Zeiten von Krisen brauchen wir keine Politiker, die die Kakophonie der Meinungen moderieren, sondern Generäle, die sagen, wo es lang geht. Denn es ist egal, in welche Richtung wir marschieren, ein Teil der Bevölkerung wird es immer für den falschen Weg halten. Hauptsache ist: Die Reihen sind fest geschlossen.

Vom Leben und Morden in Zeiten von Corona

Jedes neue Buch ist wie ein Kind. Deshalb haben Autoren auch zu jedem ihrer Werke eine andere Beziehung. Da ist der erste große Erfolg – bei mir war es „Der 7. Tag“, der immer das erste Kind bleiben wird. Da ist die schwierige Geburt : „Im 8. Kreis der Hölle“ , in dem ich meine Protagonistin in Montreal so in Bedrängnis gebracht habe, dass ich die Hilfe der deutschen Botschaft und der Polizei von Montreal brauchte, um sie da wieder herauszubekommen. „Der 6. Geburtstag“ hat sich quasi von selbst geschrieben. Dann gibt es das Buch, das man schon immer schreiben wollte, das ist bei mir „Der 1. Mann“. Seitdem mich als Jugendliche „Zwei Fremde im Zug“ , eine Patricia Highsmith-Verfilmung von Alfred Hitchcock fasziniert hat, wollte ich genauso einen Roman schreiben. Und dann gibt es das Buch, über das ich mich bei jeder Seite, die ich schreiben durfte, gefreut habe.  Das ist mein neuestes Werk „Sie wäre jetzt 17“.

 

Ich habe lange nicht mehr so viel Spaß beim Schreiben gehabt, bin meiner Protagonistin (der man durchaus ein paar autobiografische Züge unterstellen darf) mit Neugierde gefolgt, zu meinem größten Erstaunen an den Chiemsee und nach Oregon, denn eigentlich sollte der Roman in Berlin spielen. Auch der Schluss war für mich nicht vorhersehbar, er hat mich sozusagen im Schlaf überrascht.

 

Dabei hat das Buch eine ziemlich komplizierte Struktur erhalten, die es mir ermöglicht hat, obwohl ich wie immer in der Ich-Perspektive geblieben bin, verschiedene Blickwinkel zu zeigen. Allen Fiction-Writing-Lehren zum Trotz, ist es außerdem fast zur Hälfte eine Rückblende. Ich habe also alle Regeln über den Haufen geworfen. Das kann man natürlich erst, wenn man die Regeln nicht nur kennt, sondern verinnerlicht hat,  aber dann macht es eben auch einen diebischen Spaß.

 

„Sie wäre jetzt 17“ ist mein 28. Buch und es ist mit Sicherheit der Roman, den ich mit der größten Leidenschaft geschrieben habe. Sogar die Überarbeitungen nach dem Lektorat von meiner über alles geschätzten Regine Weisbrod haben mir Freude bereitet.

 

Aber diese Schreibfreude liegt sicherlich nicht nur daran, dass ich ein böses Mädchen bin, das sich ungern an Regeln hält, sondern auch daran, dass ich das Buch in Corona-Zeiten geschrieben habe. Die Pandemie und ihre Auswirkungen haben mich dankbar gemacht. Dafür, dass ich einen Beruf habe, den ich zu Hause ausüben darf, dafür, dass ich seit acht Jahren von meinen Einnahmen als Schriftstellerin leben und sogar in Krisenzeiten Geld verdienen kann, dafür, dass ich mit meinem Beruf anderen Menschen zu Hause eine Auszeit von ihren Sorgen verschaffen darf. Ich bin wirklich dankbar dafür, dass ich wieder mein großes Glück erkennen durfte, das für mich inzwischen zur Selbstverständlichkeit geworden war.  In diesem Sinne, danke an jeden einzelnen Leser und jede einzelne Leserin, dafür, dass Ihr mir dieses Glück ermöglicht.