Alte Weiße Frau

Neulich bekam ich einen Schreck. Ich wachte morgens auf und stellte fest, dass ich am 3. Dezember fünfundsechzig Jahre alt werde. Huch! Wann ist das denn passiert?

Nein, ich gehöre nicht zu denen, die weinend vor dem Spiegel sitzen und ihre Falten zählen. Ich mag mein gelebtes Gesicht. Denn ich sehe darin ein gutes Leben. Mit all dem, was ein Leben ausmacht, mit Höhen und Tiefen, mit Lachen und Tränen, mit Liebe und Hass, randvoll mit den unglaublichsten Abenteuern, die ein neugieriger Mensch erleben kann, die zu wundervollen Erinnerungen wurden.

Alt werden ist Scheiße, höre ich oft von Freunden. Ich pflege zu entgegnen: Jung sterben ist beschissener. Eins habe ich inzwischen gelernt: Nichts ist so schlimm im Leben, wie du befürchtest. Die schlimmste Krankheit, die größte Katastrophe sieht, wenn sie dich erwischt, von innen aus, wie etwas, womit du umgehen kannst. Der Mensch ist einfach perfekt programmiert.

Manchmal höre ich von Menschen um die Fünfzig, dass sie die Jahre zählen bis zur Rente, ach, wenn es doch endlich schon so weit wäre. Sie fangen bereits an, Pläne für ihren Ruhestand zu machen, kaufen Ferienhäuser oder planen große Reisen. Dann möchte ich am liebsten aufstehen und diese Menschen schütteln. Leute, lebt! Heute, jetzt! Abgesehen von verschwendeter Lebenszeit, hast du mit Fünfzig noch nicht mal eine Idee, worauf du mit Mitte Sechzig wirklich Bock hast. Ihr werdet euch wundern!

Die letzten zehn Jahre waren die bisher besten in meinem Leben. Und das sei all denen gesagt, die befürchten, dass man als Frau das Leben nach den Wechseljahren an der Garderobe abgeben muss. Im Übrigen habe ich das auch nicht in den kommenden Jahren vor.

Ich habe dieses gute Leben gelebt mit den Werten, die ich als Rüstzeug mitbekommen habe. Nicht nur von meinen Eltern und Lehrern, manches haben mir meine kindlichen Freunde schon ins Poesiealbum geschrieben. „Hilf dir selbst, dann wird Gott dir helfen“, zum Beispiel. Nein, ich glaube nicht an Gott, aber ich glaube an „Jeder ist seines Glückes Schmied“ und an Werte wie Fleiß und Ausdauer, an Disziplin und Ehrlichkeit. Manche nennen es Sekundärtugenden. Ich glaube daran, dass ich alles schaffen kann, was ich wirklich will, wenn ich siehe oben bediene. „Where there is a will there is a way“. Ich verabscheue Neid und Lügen und werde bis an das Ende meiner Tage für Freiheit und Gleichheit kämpfen.

Und dann – eines Morgens, stellst du fest, dass du alt geworden bist. Das merkst du nicht an den Wasserablagerungen unter deinen Augen oder an den Rettungsringen um deine Taille oder an den Schmerzen beim Aufstehen. Das merkst du vor allem daran, dass dir von überall her entgegenschallt: Alles falsch. Du bist sowas von daneben. Aus der Zeit gefallen. Du hast falsch gelebt. Typisch, diese ewig Gestrigen. Du bist ja ein Hedonist. Pfui! Wie kannst du bei all dem Unglück, das wir Menschen über die Welt gebracht haben, nur eine einzige Minute glücklich sein. Du verpestest mit deinem Auto die Umwelt, du schädigst mit deinem unnötigen Fernweh die Klimabilanz und verspielst mit deiner verschwenderischen Lebensweise die Zukunft unserer Kinder. Du hast dich gefälligst so zu ernähren, dass du nicht als Diabetiker die Gesundheitssysteme belastest. Es geschieht dir ganz recht, wenn du Arthritis hast, du solltest einfach Sport treiben. Du bist ein Barbar, weil du unschuldige Tiere isst und eine scheißneoliberale Ausbeuterin (wahlweise Kapitalistenschwein), weil du andere für dich arbeiten lässt. Du bist eine grenzenlose Egoistin, weil du keine Kinder hast. Das, was du für historisch bewiesen hältst, ist pure Geschichtsklitterung. Allein durch die Tatsache, dass du atmest, belastest du die Atmosphäre. Los, läutere dich: Stirb!

Früher war ich die Vordenkerin vom Dienst. Das Trendtrüffelschwein, man hat mich gut dafür bezahlt, die Zukunft zu inszenieren. Ich habe viel dafür getan, um ständig up to date zu bleiben. Was es Neues gab, habe ich ausprobiert, mich jeder technischen Herausforderung ebenso gestellt wie jedem neuen Trend. Ich bin schon früh um die Welt gereist und habe den Menschen auch in die Kochtöpfe geschaut, um neue Geschmackserlebnisse kennenzulernen. Ich habe in England, Italien, Frankreich und in den USA gelebt, im Film- und im Musikbusiness gearbeitet, viele Jahre „was mit Medien gemacht“ und eine sehr erfolgreiche PR-Agentur geführt. Ja, ich habe immer mit den ganz großen Murmeln gespielt. Mit neunundvierzig habe ich nochmal geheiratet und mit neunundfünfzig mein erstes eBook veröffentlicht. In den nächsten Tagen erscheint mein fünfundzwanzigstes Buch.

Und das alles, um dann mit Mitte sechzig plötzlich festzustellen, dass da Generationen heranwachsen, die dich für gehirnamputiert halten. Natürlich ist es das Vorrecht der Jugend, zu glauben, dass sie alles neu und anders machen muss. Wie sagte schon meine Mutter zu mir: Macht es erstmal besser!

Denn ich habe ein gutes Leben gelebt mit meinen Werten, äh Sekundärtugenden. Ein Leben in Frieden und in Freiheit. Ein gesundes Leben. Wer seid ihr, dass ihr mir vorschreiben wollt, wie ich zu denken und zu essen, wie ich zu leben und zu lieben habe. Autos, Laptops und Flugzeuge sind für mich Synonyme für Freiheit, die mir bei der Erfüllung meiner Träume geholfen haben. Ich bin als fleischfressende Pflanze geboren und mir sind nicht enden wollende Abende mit guten Gesprächen, lieben Freunden, eingenebelt in Tabakschwaden und voll des guten Weins, mehr wert, als ein paar Monate länger zu vegetieren.

Das also heißt Alt werden wirklich: Keinen Bock mehr auf die nächste Sau zu haben, die durchs Dorf getrieben wird. Alte weiße Frau. Damit gehöre ich leider nicht zu einer schützenswerten Randgruppe, deren Kultur man gefälligst zu respektieren hat.

Wann eigentlich ist es passiert, dass unsere Gesellschaft nur noch aus Randgruppen besteht: aus Alleinerziehenden, aus Schwulen, Lesben, aus Migranten, aus Asylanten, aus Schwarzen oder Menschen mit prekären Arbeits- oder Geschlechtsverhältnissen, aus berufstätigen Müttern und Behinderten und und und? Was sind wir doch für eine moderne, rücksichtsvolle, tolerante Gesellschaft.

Nur der Alten Weißen Frau, der will man ihre Kultur nicht lassen, sondern beibringen, wie sie zu leben und sich „richtig“ die Zähne zu putzen hat. Dazu fällt mir der vielzitierte Satz meiner Schwiegeroma ein:

„Ich will aber nicht!“

 

7 thoughts on “Alte Weiße Frau

  1. Liebe Frau Ramira,
    bravo bravo bravo!
    So was super passendes habe ich (selbst gerade vor 11 Tagen 65 Jahre geworden ) schon lange nicht mehr gelesen!
    Ich bin sowas von d’accord mit Ihnen!
    Bis auf den Wein, denn ich trinke keinen Alkohol. Aber dann bin ich eben voll von Granatapfelsaft….
    Dankeschön und eine frohe Adventszeit
    Herzliche Grüße Gabriele Juin

  2. Das hast du mit dem Herzen geschrieben, liebe Nika. Bis auf das Rauchen gehe ich mit dir konform. Bis jetzt hast du ein schönes, abwechslungsreiches Leben geführt. Dass es so bleibt, das wünsche ich dir und gratuliere dir von Herzen zum heutigen Geburtstag. Liebe Grüße von Ursula Gressmann

  3. An meinem nächsten Geburtstag (im April) werde ich 83.
    Also, Leute, ich würd was geben, wenn ich nochmal 65 werden könnte.
    Trotzdem GOOD LUCK!

  4. Bingo!!! Mal wieder ins Schwarze getroffen, liebe Moni. Genau soooo ist es. Was wir Alten in stiller, heimlicher Genugtuung und Schadenfreude denken und den jungen Naseweisen zurufen können: Ihr habt ja keine Ahnung! (was ihr verpaßt habt, was ihr nicht wißt…..etc…) Jeder muß seine Erfahrungen selbst machen………und wir hatten vom großen Kuchen die besten Stücke.

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