Es gibt Bücher, die passieren einem. Du hast niemals geplant „sowas“ zu schreiben und plötzlich springt dich ein Thema an, ein Konflikt beschäftigt dich, du fragst dich, was wird daraus werden. Auf einmal ist sie da, eine Figur, die sich vor dein inneres Auge schleicht, und du kannst gar nicht anders als ihre Geschichte aufschreiben.
Spätsommer 2005: Frank Schirrmacher hat gerade „Das Methusalem Komplott“ veröffentlicht. Mein Mann und ich sitzen abends an unserem blank gescheuerten Küchentisch und trinken gemütlich ein Fläschchen Wein. Die Welt ist gerade nicht wirklich lieb zu uns. Unsere Kunden werden immer jünger, während mein Vater immer älter und halsstarriger wird. Unsere Erfahrungen scheint niemand mehr so recht zu brauchen, wir möchten weg, ganz weit fort, am liebsten nach Florida. Aber da sind Vater und Kunden, wir sind festgebunden mit unseren Firmen. Draußen regnet es, die Gaslaternen brennen schon in der kleinen Straße mit dem Kopfsteinpflaster. Ich bin verzweifelt, weil mein Laptop mal wieder nicht ins Internet kommt, warum, weiß ich nicht, wir fühlen uns überfordert von der Technik, ständig neue Systeme, ständig stürzt irgendwas ab, keiner weiß warum, die Computerspezialisten sind Stammgäste bei uns im Haus. „Wenn das so weitergeht, wird es bald Altenstaaten geben“, sage ich. „Wo alles so funktioniert, wie man es gewohnt ist und nicht jeden Tag was Neues.“ „Die wird es wohl geben müssen, denn die Alten werden irgendwann nicht mehr ernährt werden können.“ Wir reden so, wie man redet, wenn man viel Wein getrunken hat, und plötzlich sagt mein Mann: „Das wäre doch mal ein schönes Thema für ein Buch.“ „Ja“, sage ich, „nur ich kann sowas nicht schreiben.“ Ich lese und schreibe Krimis und Sachbücher. Was ich ganz bestimmt niemals lese und auch weder im Fernsehen noch im Kino anschaue ist Science Fiction. „Du sollst kein Science Fiction schreiben“, sagt mein Mann, „rechne doch einfach die heutige Situation um ein paar Jahre hoch“. „Ach“, sage ich, „du meinst einen Geronten-Thriller?“
Am nächsten Morgen fahre ich in mein Büro in der Hakeburg in Kleinmachnow. Um in mein Auto zu kommen, muss ich mich durch meterhohes Unkraut kämpfen, die Berliner Straßen sehen verwahrlost aus. Sobald man in die brandenburgische Nachbargemeinde Kleinmachnow kommt, scheinen die Straßenränder mit der Nagelschere beschnitten zu sein. Mein geliebtes Berlin verlottert. Und dann sitze ich in der Burg, schaue auf den Kleinmachnower See und träume mich nach Florida. Plötzlich ist sie da. Eine Szene im Fernsehstudio von OPN (Old People Network). Ein Livebericht aus den Everglades. Mit einer Chefin, die gnadenlose Anweisungen gibt.
Am Abend dann wieder zu Hause am Küchentisch: Ich fische zehn Seiten aus meiner Handtasche. „Hier“, sage ich zu meinem Mann, „ich habe dir was mitgebracht“. Reinhard ist total begeistert. „Und wie geht es weiter?“, fragt er. „Ich habe keine Ahnung“, sage ich. Er entkorkt eine neue Flasche Wein und wir spinnen den aufgenommenen Gedanken fort. Was wir an diesem Abend noch nicht wissen: Es werden noch viele Flaschen Wein entkorkt werden müssen, man sollte Pinot Grigo als Mitautor aufführen. Ein Jahr lang haben wir Abend für Abend die Geschichte weitergesponnen. Wir haben Staaten erfunden, politische und wirtschaftliche Systeme, wir haben die Welt neu aufgeteilt und darin interessante und liebe Freunde gefunden. Es wurden Landkarten gemalt, Staatsflaggen designt und Nationalhymnen komponiert, die wir zur Freude unserer Nachbarn dann um Mitternacht auch lauthals intonierten. Tagsüber haben wir recherchiert und ich habe unser nächtliches Seemannsgarn niedergeschrieben, um abends mit meinem Mann weiterzuspinnen.
Im August 2005 haben wir uns auf eine Reise in eine mögliche, nahe Zukunft aufgemacht, in der wir fast ein Jahr gelebt haben, ohne das endgültige Ziel dieser Reise zu kennen. Es stand nur eins fest: Die Prämisse. Die Prämisse ist eine Frage, die es zu beantworten galt: Ist Blut dicker als Wasser? So entstand „Alligator Valley – Krokodile weinen nicht“: die ganze Welt am Küchentisch.
Auch die Hakeburg wird zum Schauplatz von Alligator Valley.
Lesen Sie demnächst: Warum das Krokodil zehn Jahre geschlafen hat.