Ach, Mutti!

Zu Muttertag blüht der Flieder. Und der Goldregen. Und die Pfingsrosen. Die Maiglöckchen, natürlich. Ein Strauß Maiglöckchen gehörte dazu, wenn Muttertag war. Du legtest Wert auf Muttertag. Ich fand Muttertag albern. Bei mir war immer Muttertag.
Natürlich habe ich heute einen Strauß Maiglöckchen auf Dein Grab gelegt. Es sind Deine Lieblingsblumen. Nur es ist nicht Dein Grab. Mein Vater hat darauf bestanden, dass Du anonym verscharrt wirst. Weil ich mich ja eh nicht um Dein Grab kümmern werde. Sollte ich mich mit ihm streiten, damals bei Grieneisen?

Dein Name steht auf seinem Grabstein. Komisch, Du bist mir so nah, wenn ich auf den Friedhof fahre. Durch unsere alte Gegend. Weißt Du, dass sie in unserer Straße die Platanen beschnitten haben? Wie Lastkräne im Hafen ragen sie in den Himmel. Berlin-Dahlem, zu Hause. Breitenbachplatz, wie viele Male haben wir ihn gemeinsam umrundet? Ich schlucke die Tränen runter, denke an Dich, wie Du warst, damals, als wir hierher zogen. Ich muss mich zwingen daran zu denken. Zu schwer lastet die Erinnerung an dieses muffige Pflegeheim auf mir, in dem Du die letzten Jahre vegetiert hast. Ich muss mich zwingen, an meine lustige, charmante Mutti zu denken, immer wieder sehe ich die schreiende Alte vor mir, die mit Tassen nach mir wirft. Alzheimer. Verdammt, konntest Du nicht Krebs bekommen oder einen Schlaganfall, einen Herzinfarkt. Oder wenigstens einen Oberschenkelhalsbruch, so wie andere anständige Mütter. Du hast Dinge getan, die ich Dir jahrelang nicht verzeihen konnte. Obwohl ich wusste, dass Du krank warst. Zehn Jahre ist es her, dass Du gestorben bist. Zehn Jahre und ich habe dieses Bild immer noch nicht aus meinem Gedächtnis löschen können.

Ich fahre um den Breitenbachplatz herum hinein in den Südwestkorso. Berlin-Friedenau. Gepflegte Bürgerhäuser, die wie Trutzburgen die Straßen säumen. Hier bist Du geboren. Ich auch. Der Friedhof liegt gleich gegenüber des Hauses, in dem Deine Eltern wohnten. Auch wir haben dort gewohnt, bis ich vier Jahre alt war. Auf dem Friedhof liegt auch Marlene Dietrich. Ich verliere Dich immer, wenn ich auf diesen Friedhof komme. In den Straßen und Plätzen unseres Lebens finde ich Dich, aber nicht hier, auf diesem Friedhof. Ich sitze in meinem Auto und meine Augen schwimmen in Tränen. Und dann gehe ich auf den Friedhof und sehe nur, welches Unkraut ich zupfen, wo ich den Grabstein säubern muss. Du bist nicht hier auf diesem Friedhof und nicht in diesem Grab. Eine andere Frau ist mir hier nah. Meine Omi. Omi Hof. Omi Hof hieß so, weil ich nur über den Hof musste, hoch in den 1. Stock zu Omi, die eigentlich meine Großtante war.  

 

Mit Omi bin ich im Sommer jeden Tag auf den Friedhof gegangen, die Gräber unserer Angehörigen gießen. „Komm, Puddelchen“, hat sie gesagt. Ich liebte diesen Friedhof, mit seinen uralten Bäumen, die so wunderbaren Schatten spenden, die Ruhe, die hier herrscht, das Vogelgezwitscher. Warum hat niemand dafür gesorgt, dass Omi hier begraben wurden? Ich habe Dich nie zu ihrem Grab begleitet, als sie starb, warst Du im Urlaub. Mein Vater befand es nicht für nötig, nach Hause zu kommen zur Beerdigung. Omi war immer für Dich da, die ersten vier Jahre meines Lebens habe ich bei Omi verbracht, damit Du arbeiten gehen konntest.

 

 Und so habe ich die Maiglöckchen auf Dein Grab gepackt, das Unkraut gezupt und den Grabstein gesäubert. Dein Name steht unter dem meines Vaters. Du hast mir so viel Liebe gegeben und ich habe versucht, sie Dir zurückzugeben. Nur Geborgenheit, die habe ich von Dir nicht bekommen. Nicht ein einziges Mal hast Du mich vor meinem Vater beschützt. Nicht einmal hast Du gesagt: ‚Hör auf, das Kind mit Deinen Launen zu quälen‘. Oder ‚bleib dem Bett deiner Tochter fern‘.

 

Aber heute ist ja Muttertag.

E-Book5.gebotmoniMutti als Covergirl.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

One thought on “Ach, Mutti!

  1. Liebe Nika,

    man traut sich kaum, etwas dazu zu schreiben, weil eigentlich alles, was man sagen könnte, zu banal klänge. Ich kann Deine Gefühle sehr gut verstehen. Vor allem dieses Nicht-Verzeihen. Manche Sachen brechen noch aus einem heraus, da kann man so alt werden wie eine Kuh. Und trotz all dem, was sie nicht getan oder verhindert haben, liebt man.
    Es hat mich sehr berührt, von Dir so Intimes zu lesen und ich werde noch viel darüber nachdenken. Jetzt stelle ich mir vor, wie Du am Grab stehst und Omi Hof raunt »Ach komm, Puddelchen.«

    Alles Liebe
    Nikola

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