Und schon wieder Silvester. Ich hasse Silvester. Vielleicht lernt man das schon als Kind. Mein Vater hasste Silvester ebenfalls. Als Sohn eines Feuerwehrmanns, wen wundert es. Aber es war auch bei meinem Vater mehr als die Angst vor Feuer. Es war die Abneigung, auf Befehl feiern zu müssen. Geburtstage, Weihnachten und Silvester erzeugen bei mir Unbehagen. In der ersten Hälfte meines Lebens habe ich mir immer gewünscht, mal eine richtig geile Fete zu Silvester zu feiern, egal ob selbst organisiert oder eingeladen. In der zweiten Hälfte meines Lebens habe ich erkannt, dass ich niemals eine tolle Party zu Silvester erleben werde, weil jeder eigentlich nur darauf wartet, dass es endlich Mitternacht schlägt und man befreit ist von der Zwangsbespaßung. Die Suche nach dem ultimativen Silvester hat mich rund um die Welt geführt. Ich startete um Mitternacht in einem Flieger in Hongkong, ich saß allein mit Bauchkrämpfen am Ufer des Nils, ich lag im Bett in New Orleans und schaute Magnum im Fernsehen. In London verließen wir die Party um zehn, es war uns einfach zu langweilig, wir schauten uns das Feuerwerk am Riesenrad im Fernsehen an, weil es draußen viel zu kalt und zu voll war. Ich habe selbst Partys gegeben, die damit endeten, dass ich Neujahr mit drei Katern im Bett verbrachte. Dieses merkwürdige Stimmung und Alkohol vertragen sich wohl offensichtlich nicht so richtig. Es brauchte also viele Jahre, um zu erkennen: Ich bin ein Silvestermuffel.
Also gibt es bei uns – wie jedes Jahr zu Silvester – Gin Tonic mit Diner for One und anschließend ein japanisches Fondue. Wir haben Glückskekse und Seifenblasen, um das Neue Jahr zu begrüßen. Mausebär und ich hassen Champagner. Aber auch bei dem brauchten wir lange, um uns einzugestehen, dass wir das Zeug, mit dem wir uns am Anfang gegenseitig traktierten, absolut nicht ausstehen konnten.
Was also bleibt am Ende des Jahres? Ein Fazit ziehen, innehalten. Es bleibt die Dankbarkeit. Auch dieses Jahr mit dem geliebten Menschen verbracht haben zu dürfen. Auch dieses Jahr wieder von den Büchern, die man schrieb, leben zu können. Einen wundervollen, nicht enden wollenden Sommer jeden Abend bis zum Abwinken genossen zu haben. Zwei hinreißende Stubentiger zu haben, die unsere Tage mit Lachen und unsere Nächte mit Glück und eingeschlafenen Gliedern erfüllen.
Und die Angst. Ich sehe jetzt gerade die eine oder andere Deutschlehrerin angesichts meiner kühnen Satzkonstruktionen die Stirn runzeln. Ich erlaube mir Freistil. Heute. Wo waren wir stehen geblieben? Genau. Bei der Angst. Der Zustand unserer Gesellschaft, der Umgang miteinander, der macht mir Angst. Vor vielen Jahren schrieb der TV-Journalist Peter Hahne den Bestseller: Schluss mit Lustig. Wie recht er damals hatte. Wir befinden uns auf dem besten Weg zur gesellschaftlichen Anhedonie. Das ist ein Krankheitssymptom. Und bevor ihr jetzt alle googeln müsst, was das eigentlich bedeutet, hier ein bisschen copy & paste aus Wikipedia:
In klinischer Psychologie und Psychopathologie wird der Begriff verwendet, um die Symptomatik verschiedener psychischer Störungen zu beschreiben.
- Bei der Depression ist die Anhedonie als Verminderung positiver Reaktionen in der Anzahl wie auch der Qualität freudiger Reaktionen ein zentrales Merkmal.
- Beim Überlebenden-Syndrom bezeichnet es die überdauernde Unfähigkeit, Zerstreuungen zu genießen.
Anhedonie, als Fehlen von Vergnügen in Situationen, die normalerweise vergnüglich sind, kann bei der Schizophrenie auftreten als Basisstörung im Rahmen der Negativsymptomatik. Ferner ist Anhedonie bei schizoiderund schizotypischer Persönlichkeit, Psychosen, Süchten, Psychosomatosen zu beobachten, teilweise auch bei der Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung. Sie kann auch bei Menschen auftreten, die über einen längeren Zeitraum Stimulanzienmissbrauch betrieben haben.
Man kann Anhedonie natürlich auch einfach als lustfeindlich übersetzen. Die Kontrollfreaks haben das Ruder übernommen. Es ist inzwischen Common Sense, dass wir zu allererst uns selbst ständig kontrollieren müssen. Wir kaufen uns Pulsuhren, um zu kontrollieren, ob wir genügend Schritte gelaufen sind, ob wir genug getrunken und wenig genug gegessen haben. Wir kaufen uns Zahnbürsten, die uns sagen, ob wir uns auch richtig die Zähne geputzt haben oder nachbessern müssen. Wir ordnen unsere Körper in einen Body Mass Index ein und lassen uns vorschreiben, wo die Toleranzgrenze liegt. Wir glauben, wenn wir nur ganz doll brav sind, nicht rauchen, nicht trinken, kein Zucker und keine Kohlehydrate verzehren, nicht zu viel arbeiten, viel Sport treiben, dass wir dann ewig leben werden und uns niemals eine schwere Krankheit ereilen wird. Wir sind so sicher, dass wir allein durch unsere Anwesenheit diese Welt zerstören und das Überleben aller Spezies einzig und allein von unserem Wohlverhalten abhängt. Wir verteufeln die Autos, die Industrieschlote, die Feuerwerke. Offensichtlich fühlen wir uns erst gut, wenn wir verzichten. Auf alles, was uns am Leben hält und uns allen mal Spaß gemacht hat. Wir können uns kontrollieren, also kontrollieren wir die Welt. Und wehe einer denkt etwas anderes, leugnet gar, dass der Mensch für alles Unglück der Welt allein verantwortlich sei. Nicht nur unsere Körper sind indiziert, auch unser Denken hat sich innerhalb der political correctness-Grenzen zu bewegen.
Dieses Verhalten ist nicht neu. Es ist nur neuer Wein in alten Schläuchen. Denn genau dieses Verhalten wurde jahrhundertelang von den Kanzeln der Kirchen gepredigt. Verzichte im Hier und Jetzt, damit du ein ewiges Leben im Himmel hast. Wer anders dachte und es laut sagte, wurde als Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Damit sind die Kirchen reich geworden, ebenso wie die neuen Protagonisten der Anhedonie sich an der Suche der Menschen nach einem Sinn in ihrem Leben kräftig bereichern.
The same procedure also. Und morgen wird es so weitergehen. Ich werde mich beschimpfen und beleidigen lassen, weil ich es mir auch weiterhin erlauben werde, über Grenzen hinweg zu denken und mein Leben jeden einzelnen Tag zu genießen. Mit Zucker und Alkohol, mit Steaks und saftigen Braten, mit Auto- und Flugreisen. Solange ich nicht als Hexe auf dem Scheiterhaufen ende, ist unsere Welt wenigstens noch halbwegs in Ordnung.
Darauf dürft Ihr von mir aus ein paar Böller in die Luft jagen. Es ist schließlich Silvester.