Gedanken zum Feiertag

7. Mai 1945 – Luzie – irgendwo in Brandenburg

Luzie ist seit Tagen auf der Flucht vor den russischen Truppen, die auf Berlin vorrücken. Zusammen mit ihren Kolleginnen vom Versorgungsamt war sie nach Landsberg ausgelagert worden. Drei Mädchen haben Glück – eine hochschwangere Frau nimmt sie mit einem Pferdewagen mit in Richtung Berlin.  Als die Nacht hereinbricht, machen die Frauen Rast bei einem Bauernhof, die Pferde sind übermüdet und auch die Menschen brauchen Wasser und ein Stück Brot. Der alte Bauer bietet ihnen an, in der Küche zu schlafen, wo im Ofen ein Feuer brennt. Die Bauernfamilie teilt mit den Frauen ihr letztes Brot, bedrückt sitzen die Menschen rund um den Esstisch. Alle haben Angst vor den Russen, man hat da ganz schlimme Dinge gehört. Und auch die Lage in Berlin ist – nun ja. Wenn doch bloß der Krieg endlich vorbei wäre.

Und dann geht plötzlich alles ganz schnell. Kaum haben die Menschen draußen Geräusche gehört, wird auch schon die Tür aufgerissen und zwanzig Männer stürmen mit vorgehaltenen Gewehren in die Küche. Der alte Bauer wird sofort erschossen, die Frauen schreien, die Soldaten brüllen Unverständliches, fuchteln mit den Gewehren herum, schießen in die Luft. Luzie lässt sich in dem allgemeinen Durcheinander vom Stuhl fallen und rollt sich unter das Sofa. Die Soldaten haben sie nicht bemerkt, sie haben sich auf die anderen Frauen konzentriert. Luzie muss in ihrem Versteck mit ansehen, wie Dutzende Soldaten über ihre Kolleginnen herfallen. Die offensichtlich betrunkenen Männer machen auch nicht Halt vor der alten Bäuerin und auch nicht vor der Hochschwangeren. Danach zieht der russische Spähtrupp weiter.

Gegen Morgen, es ist schon lange ruhig geworden, nickt Luzie dann doch ein wenig ein unter dem Sofa. Sie träumt, dass ihr Mann, der seit drei Jahren verschollen ist, sich zu ihr legt und sagt: „Luzelchen, ich kann jetzt nicht mehr auf dich aufpassen. Ich schicke dir jemanden.“

Als Luzie sich in die Küche zurückrollt, sieht sie sieben Leichen. Die Russen haben die Frauen nach Gebrauch erschossen, Zeugen können sie nicht gebrauchen. Der Hochschwangeren haben sie noch den Bauch aufgeschlitzt. Luzie stolpert zum Waschbecken, sie braucht einen Schluck Wasser. Aus dem Spiegel über dem Becken blickt Luzie eine alte Frau entgegen. Luzie ist 24 Jahre alt und über Nacht schlohweiß geworden.

Als sie das Haus verlässt, scheint die Sonne gnadenlos vom Himmel, die Vögel zwitschern. Sie weiß nicht wohin, wie weiter, nur fort muss sie, denn da werden noch mehr Russen kommen. Als sie das nächste Gehöft erreicht, hört sie eine Radiostimme. Die deutsche Wehrmacht hat soeben die Kapitulation erklärt. Der Krieg ist aus.

 

8. Mai 1945 Kriegsgefangenenlager Sibirien – Gerhard

„Durst, ich habe Durst“, stöhnt Werner. Er hat Typhus. Gerhard, der im Bett neben ihm liegt, reicht seinem Kumpel eine Wasserflasche. „Du, Gerhard“, flüstert  Werner, er ist so kraftlos, dass er kaum sprechen kann, „ich schaff’s nicht.“ Gerhard wiegelt aber, obwohl er sieht, dass Werner am Ende ist. „Hier“, sagt der totkranke Mann und zieht einen Brief unter dem Kopfkissen hervor. „Versprich mir, wenn du wieder nach Berlin kommst, gib den meiner Frau.“ Nicht einmal eine Stunde später ist Werner tot. Er hat laut fantasiert, von seinem Luzelchen.

Gerhard überlebt das Lager mit einem Trick, der Junge, der Flugzeug- und Raketenbau bei Wernher von Braun studiert hat, behauptet, er sei Architekt, so kommt er in ein Lager in Moskau, wo er einen Häuserblock entwirft. Das Versprechen: Wenn der Häuserblock fertiggestellt ist, darf er nach Hause. Ein riskantes Unterfangen, wenn etwas schiefgeht, könnte es ihn das Leben kosten. Aber alles ist besser als Sibirien, das Straflager, wo man ihn hingebracht hat, weil er aus einem anderen Lager getürmt war.  Von über hunderttausend Kriegsgefangenen in Sibirien haben nur sechstausend überlebt. Ende 1951 ist es soweit – der Häuserblock steht, sieht gut aus und will auch nicht einstürzen. Gerhard darf zurück nach Berlin. Sieben Jahre war er in Kriegsgefangenschaft, er ist jetzt 31 Jahre alt und zu Hause erwartet ihn die Arbeitslosigkeit, denn Flugzeugbau ist in Deutschland verboten.

Gerhard erinnert sich an seinen alten Kumpel Werner und an den Brief, den er ihm auf dem Sterbebett gegeben hat. Er schreibt eine Karte an die Adresse, die auf dem Brief steht, er will Luzie den Brief persönlich übergeben und ihr von Werner und seinen letzten Tagen erzählen.

1952 Berlin – Gerhard trifft Luzie. Sie heiraten noch im gleichen Jahr.

1953 bekommen sie ein Mädchen. Sie nennen es Monika.

8. Mai 2020. 75. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus. Sie nennen es Feiertag.

Ich nenne es Respektlosigkeit.

Millionen Menschen wie Luzie und Gerhard haben ihr Leben, ihre Jugend, ihre Gesundheit, ihre Angehörigen in diesem Krieg verloren. Was gibt es da zu feiern, außer dem Kriegsende.